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Die Zeiten, in denen Typ-1-Diabetikern generell von Sport abgeraten wurde, sind vorbei. Doch bei Leistungs- oder gar Profisport reagieren immer noch viele Diabetologen skeptisch. Dabei zeigt das Radprofi-Team Novo Nordisk, dass Typ-1-Diabetes auch im Spitzensport kein Hindernis sein muss. Antje Thiel hat die Athleten im Trainingslager in Alicante besucht.
Das große Ziel heißt Tour de France 2021. Zum 100. Geburtstag des Insulins wollen die Radprofis des internationalen Teams Novo Nordisk, dem ausschließlich Typ-1-Diabetiker angehören, sich für das bekannteste aller Radrennen qualifizieren. Der Gründer dieses einzigartigen Teams, Phil Southerland, weiß: “Vor uns liegt eine Menge harter Arbeit, aber es ist trotzdem ein realistisches Ziel.”
Harte Arbeit, das bedeutet für einen Radprofi auch, über 250 Tage im Jahr unterwegs zu sein. Denn bei 140 Renntagen in 25 Ländern und drei bis vier 10-tägigen Trainingslagern sitzt man immer entweder irgendwo auf der Welt im Sattel – oder im Flugzeug, um das nächste Rennen zu erreichen und sich vor Ort ein paar Tage zu akklimatisieren.
Im Januar steht für das Team Novo Nordisk vor Saisonbeginn immer ein Trainingslager in der Region Alicante an der Costa Blanca auf dem Programm. Über 100 Menschen schwirren hier herum: Neben den 18 Fahrern des Profiteams sind 19 Nachwuchsfahrer (Development Team) und 12 Junioren zum Training nach Alicante gekommen; dazu Ärzte, Trainer, Diabetesassistentinnen, Ernährungsexperten, Physiotherapeuten, Fahrradmechaniker, Mitarbeiter des Serviceteams und Manager.
In jeder Ecke der Hotel-Lobby sieht man kleine Grüppchen sitzen, die Trainings- und Ernährungspläne für die kommenden Tage durchsprechen.
Anders als sonst ist es diesmal ungemütlich bei 7 Grad Celsius, es regnet fast pausenlos. Doch die Radprofis müssen auch bei schlechtem Wetter den Trainingsplan abarbeiten. Für heute steht eine lockere Trainingsfahrt von zwei Stunden an. Die Radprofis kippen ein paar kleine Becher Espresso im Teambus, dann schwingen sie sich auf die Räder. Sie fahren im Pulk.
Die 65 km lange Strecke bietet Aussicht auf zerklüftete Steilhänge, malerische Bergdörfer, viele Steigungen und Kurven. Ob sie das Panorama bei ihrem Tempo wahrnehmen? Auf flacher Strecke erreichen sie immerhin 35 bis 40 km/h, selbst an den Steigungen zeigt der Tacho noch 20 bis 25 km/h an.
Jeder Fahrer kennt seinen Trainingsplan, der den Tagesablauf bis ins Detail regelt; der Plan umfasst individuelle Trainingsziele und auch die genaue Uhrzeit, wann abends das Licht ausgeschaltet und die Beine hochgelegt werden müssen. Klare Ernährungsempfehlungen sind vermerkt: für Ruhe-, Trainings- oder Renntage.
Fürs Berechnen der Kohlenhydrate und der erforderlichen Insulindosis für die Typ-1-Diabetiker findet man am Buffet der Radprofis vor jeder Warmhaltewanne eine digitale Küchenwaage: Alle Mahlzeiten sollen genau abgewogen werden, um unnötige Glukoseschwankungen zu vermeiden. Und es sind immer Experten in Rufweite, die den Athleten bei Bedarf ganz genau sagen können, wie viele Kohlenhydrate in einer Portion Putencurry oder Milchreis enthalten sind, die heute am Buffet zur Auswahl stehen.
Für die Radprofis ist ein derart durchgetakteter Alltag im Team Novo Nordisk die Erfüllung eines Lebenstraums: “Ich wollte schon immer ein Topathlet sein, der mit Sport seinen Lebensunterhalt verdienen kann”, sagt Brian Kamstra. Vor seinem Start als Radprofi war er erfolgreicher Läufer und war u. a. viermaliger niederländischer Meister im Cross Country Running (Geländelaufen). Doch auch auf dem Rad ist der 23-Jährige ein Ausnahmetalent. Seit zwei Jahren gehört er zum Team Novo Nordisk.
Als er ein Jahr zuvor die Diagnose Typ-1-Diabetes erhalten hatte, war er vor allem erleichtert: “Endlich wusste ich, warum ich trotz harten Trainings immer schwächer wurde und was mich davon abhielt, sportliche Topleistungen zu bringen.” Jedoch taten sich seine Ärzte anfangs schwer damit, in ihm weiterhin einen Spitzenathleten zu sehen: “Sie waren überhaupt nicht vertraut damit, Leistungssportler zu betreuen”, erinnert sich Kamstra, “doch zum Glück hat mich das nicht davon abgehalten, meine sportlichen Ziele weiterzuverfolgen. Heute sind die anderen Fahrer im Team meine besten Ärzte.”
Auch Andrea Peron (28) aus Italien war nach seiner Diagnose im Alter von 16 Jahren entschlossen, sich vom Typ-1-Diabetes nicht aufhalten zu lassen: “Ich komme aus Norditalien, da ist Rennradfahren Volkssport. Ich liebe Geschwindigkeit, und ich liebe Rennen.” Anders als sein Teamkollege Kamstra hatte Peron von Anfang an ärztliche Rückendeckung: “Mein Arzt ermutigte mich, weiter Radrennen zu fahren.” Seit 5 Jahren ist Peron Radprofi im Team Novo Nordisk und damit ein Teamfahrer der ersten Stunde.
Auch der Finne Joonas Henttala (25), Typ-1-Diabetiker seit seinem 10. Lebensjahr, ist seit 5 Jahren Teil des Teams Novo Nordisk. In seinem vorigen Radrennteam wusste so gut wie niemand von seinem Diabetes: “Ich glaube, ich wollte einfach normal sein und nicht auffallen”, erinnert er sich. Teil eines Teams mit lauter Typ-1-Diabetikern zu sein, hat ihn von diesem Druck befreit. Seine Einstellung zum Diabetes hat sich nicht verändert: “Aber es verändert die Einstellung anderer zum Diabetes. Viele Menschen sind interessiert und überrascht, dass wir auch mit Diabetes sportliche Spitzenleistungen erzielen können.”
Tatsächlich steht der Diabetes den Radprofis sportlich nicht im Weg: Keiner kann sich daran erinnern, einmal ein Training oder gar ein Rennen abgebrochen zu haben, weil die Glukosewerte nicht stimmten. Kamstra lacht: “Wenn ich mal meine Kohlenhydrate falsch berechnet habe und mir bei einer sechsstündigen Trainingsfahrt das Essen ausgeht, dann mache ich eben kurz bei einer Tankstelle halt. Und bei den Rennen gibt es Verpflegungsstationen an der Strecke.” Peron und Henttala ergänzen: “Wir sind alle sehr gut eingestellt. Diabetes ist kein Grund, ein Rennen zu unterbrechen.”
So sieht es auch Dr. David Castol, Medizinischer Direktor im Team Novo Nordisk. Der mexikanische Arzt ist nicht etwa Diabetologe, sondern Sportmediziner: “Die Jungs sind Profis, beim Radfahren und beim Diabetesmanagement.” Also sieht er seine Aufgabe vor allem darin, die Radprofis beim Training und während der Rennen medizinisch zu unterstützen. “Das Diabetesmanagement ist Sache der Diabetologen in den Heimatorten unserer Athleten. Wir ermutigen sie immer, sich regelmäßig mit ihnen auszutauschen.”
Trotzdem hat Castol immer viel Gepäck, wenn er das Team durch die Welt begleitet: “Ein kleiner Koffer voller Diabetesutensilien für ein Tagesrennen, ein großer für ein Mehrtagesrennen”, sagt er. “Wir stellen den Athleten für ihr Diabetesmanagement die bestmögliche technische Unterstützung zur Verfügung. Ob sie diese letztlich nutzen, liegt an ihnen selbst.” Bis auf Andrea Peron tragen alle Fahrer des Profiteams ein CGM-System zum kontinuierlichen Glukosemonitoring.
Mehr möchte Castol nicht über das konkrete Diabetesmanagement der Athleten verraten. “Wer wie viel Insulin spritzt und wann wie viele Kohlenhydrate isst, ist einfach sehr individuell”, sagt er. Zu groß ist die Gefahr, dass andere Diabetiker aus den Erfahrungen der Radprofis direkte Empfehlungen für ihr eigenes Diabetesmanagement ableiten.
Tatsächlich sind die Radprofis Vorbilder für viele junge, frisch diagnostizierte Menschen mit Typ-1-Diabetes. Ihnen will das Team zeigen, dass der Diabetes nicht das Ende sportlicher Ambitionen sein muss; dass Sport zu einer guten Diabeteskontrolle dazugehört, und dass umgekehrt eine gute Diabeteskontrolle der Schlüssel zu sportlichem Erfolg ist.
Genau diese Botschaft ist es, die den Teamgründer Phil Southerland antreibt. Der Amerikaner war in seiner Collegezeit selbst eine Zeitlang Radprofi: “Im Profisport ist Diskriminierung leider immer noch an der Tagesordnung. Viele talentierte Amateure bekommen gesagt, sie könnten aufgrund ihres Diabetes kein Profi werden.” Diesen jungen Talenten will das Team Novo Nordisk Mut machen.
“Bei unseren Trainingslagern für den Nachwuchs erleben wir viele Jugendliche, die sich lange für ihren Diabetes geschämt haben. Wenn sie im Trainingslager mit unserem Team zusammentreffen, dann haben sie zum ersten Mal Hoffnung und sind sogar ein bisschen stolz, Diabetes zu haben.”
von Antje Thiel
Redaktion Diabetes-Journal, Kirchheim-Verlag,
Kaiserstraße 41, 55116 Mainz,
Tel.: 06131/96070-0, Fax: 06131/96070-90,
E-Mail: redaktion@diabetes-journal.de
Erschienen in: Diabetes-Journal, 2017; 66 (3) Seite 36-38
5 Minuten
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