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Welche Rolle spielen Gene bei der Entwicklung von Erkrankungen, welche Rolle spielt die Umwelt? Die Epigenetik zeigt, wie beide Faktoren ineinandergreifen. Sie ist die Basis des metabolischen Gedächtnisses: Der Körper erinnert sich auch an vergangene Stoffwechselzustände.
Lange Zeit gab es lebhafte Diskussionen zwischen Forschenden, ob Folgeerkrankungen des Diabetes wie frühzeitige Herzkreislauferkrankungen, Veränderungen des Augenhintergrunds oder Nierenprobleme ein nicht-beeinflussbares Schicksal sind, oder ob sie durch eine gute Diabetesbehandlung beeinflusst werden können.
Diese Frage wurde 1993 in der sogenannten DCCT-Studie (Diabetes Control and Complications Trial DCCT, 1983-1993) geklärt. Sie zeigte, dass eine intensive Therapie mit Insulinpumpe oder intensivierter konventioneller Therapie mit mehrfachen täglichen Insulininjektionen im Vergleich zu einer konventionellen Therapie (1-2 tägliche Insulingaben) das Risiko für Langzeitkomplikationen deutlich verringerte. Dabei ließ sich die Verringerung der Folgeerkrankungen statistisch gesehen ausschließlich auf den Unterschied im mittleren HbA1c-Wert (im Mittel 7,2 % gegenüber 9,0 %) zurückführen. Auch nach Abschluss der DCCT Studie wurde die gesamte Kohorte im Rahmen der Epidemiology of Diabetes Interventions and Complications (EDIC)-Studie bis heute weiterverfolgt.
Da nach Abschluss der DCCT-Studie die meisten Teilnehmenden die intensivierte Therapie nutzten, näherten sich die mittleren HbA1c-Werte der Gruppen an. Dennoch blieben die positiven Auswirkungen der Intensivtherapie in der DCCT Phase mit Blick auf Folgeerkrankungen nicht nur bestehen, sondern nahmen im Verlauf der EDIC zu. Die Unterschiede bei den Komplikationen während der EDIC wurden statistisch vollständig durch die HbA1c -Unterschiede während der DCCT-Studie erklärt. Aus diesen Beobachtungen ergibt sich das Konzept des “metabolischen Gedächtnisses”. Darunter versteht man den Effekt, dass ein hoher HbA1c-Wert in den ersten Jahren des Diabetesverlaufs auch bei einer späteren Stoffwechselverbesserung noch einen Effekt auf die Entwicklung von Folgeerkrankungen hat. Der Körper “erinnert” sich an diese Zeit im Rahmen der Prozesse, die zur Entwicklung von Diabeteskomplikationen führen.
Wenn es aber keine vererbten genetischen Ursachen sind, wie kann sich dann der Körper an frühere Umwelteinflüsse wie über lange Zeit zu hohe Zuckerwerte erinnern? Um das zu verstehen, muss man sich mit neusten Erkenntnissen zur Regulation unserer Gene, also der Erbinformation, beschäftigen.
Wenn der Körper die Erbinformation abliest, z.B. bei der Erstellung der Bausteine unseres Körpers, spielen nicht nur die eigentlichen Gene eine Rolle. Den Genen zugrunde liegt die DNA (Desoxyribonukleinsäure), ein strangförmiges Molekül, was in einer Doppelhelix angeordnet ist und in allen Zellen vorkommt. Die DNA trägt die verschiedenen Gene mit den für die Zellfunktion notwendigen Informationen. Inzwischen weiß man, dass die Gene auch durch Umwelteinflüsse und Lebensstil reguliert werden können, man spricht dann von der Epigenetik.
Bei der Genetik geht es also darum, wie die DNA-Sequenzen zu Veränderungen in der Zelle führen, während sich die Epigenetik darauf konzentriert, wie die DNA reguliert wird, um diese Veränderungen zu erreichen. Im Gegensatz zu genetischen Veränderungen sind epigenetische Veränderungen umkehrbar und verändern nicht die DNA-Sequenz, sondern die Art und Weise, wie eine DNA-Sequenz abgelesen wird.
Inzwischen gibt es vielfältige Hinweise, dass über längere Zeit bestehende hohe Glukosewerte zu epigenetischen Veränderungen führen können. Das ist die Erklärung für das “metabolische Gedächtnis” .
Gene, die mit der Entwicklung von Folgeerkrankungen zusammenhängen, können sich auf zwei Arten verändern: 1) in der Art und Weise, wie die Gene in der Zelle verpackt sind, und 2) durch Anbringen chemischer Markierungen an bestimmten Genen im Genom. Umwelteinflüsse wie Ernährung und die Exposition gegenüber Schadstoffen wie hohem Blutzucker können sich auf das Epigenom auswirken. Epigenetische Veränderungen können bei der Zellteilung weitergegeben werden, teils über Generationen. Eine häufige Form der epigenetischen Veränderung ist die sogenannte DNA-Methylierung.
In der wegweisenden DCCT/EDIC- Studie wurde auch die Rolle der Epigenetik beim metabolischen Gedächtnis untersucht. Die Forschenden erstellten ein Profil der DNA-Methylie- rung in archivierten Blut-DNA-Proben von 500 Teilnehmern der Studie. Anschließend verglichen sie die DNA-Methylierung mit dem Blutzuckerverlauf und der Entwicklung von Komplikationen. Das Team fand heraus, dass eine frühere Hyperglykämie anhaltende DNA-Methylierungsveränderungen hervorrufen kann, die in
bestimmten Zellen epigenetisch beibehalten werden. In der Regel findet die Methylierung an bestimmten Stellen der DNA statt, wo sie das Ablesen der Gene blockiert. Die Methyl-Gruppe kann durch einen Prozess namens Demethylierung entfernt werden. Dann werden die Gene wieder abgelesen.
In dieser umfassenden Studie wurde die Epigenetik einer großen Zahl von Menschen mit Typ-1-Diabetes systematisch mit ihrer glykämischen Vorgeschichte und ihrer zukünftigen Entwicklung der wichtigsten Folgeerkrankungen über 18 Jahre verglichen. Dem Forschungsteam zufolge könnten die Studienergebnisse zur Entwicklung epigenetischer Marker als potenzielle Biomarker für die Entwicklung von Komplikationen und dem metabolischem Gedächtnis führen. Dies könnte ein frühzeitiges Eingreifen erleichtern und das Fortschreiten schwerer Komplikationen verhindern. Darüber hinaus liefern die Daten neue Einblicke in die Mechanismen des metabolischen Gedächtnisses im Zusammenhang mit den spezifischen Regionen und Genen, die von der DNA-Methylierung betroffen sind. Diese Gene könnten auch Ansatzpunkte für neue Medikamente sein. So versucht man mit Hilfe neuartiger computergestützter Screening-Methoden kleine Molekül-Inhibitoren zu identifizieren, die bei der Behandlung von Komplikationen und dem metabolischem Gedächtnis helfen könnten.
Weitere Forschende haben noch andere Vorgänge identifiziert, z. B. wie das metabolische Gedächtnis epigenetisch vermittelt wird. So wickelt sich die DNA um Proteine, die sogenannten Histone. Sind die Histone dicht gepackt, können die Proteine, die das Gen ablesen, die DNA nicht so leicht erreichen, so dass das Gen ausgeschaltet wird. Sinde sie locker gepackt, liegt mehr DNA frei und kann von Proteinen, die das Gen ablesen, erreicht werden, so dass das Gen eingeschaltet wird. Chemische Gruppen wie Zucker tragen dazu bei, Histone fester oder lockerer zu packen und so Gene aus- oder einzuschalten. Neben der DNA spielt auch die RNA (Ribonukleinsäure) eine maßgebliche Rolle bei der Neubildung von Proteinen in Zellen. Die DNA dient als Anleitung für die Herstellung von kodierender und nicht-kodierender RNA. Kodierende RNA wird zur Herstellung von Proteinen verwendet. Nicht-kodierende RNA hilft bei der Kontrolle der Genexpression, indem sie sich zusammen mit bestimmten Proteinen an die kodierende RNA anlagert, um die kodierende RNA zu zerlegen, damit sie nicht zur Herstellung von Proteinen verwendet werden kann. Langfristig erhöhte Zuckerwerte können nicht-kodierende RNA beeinflussen, um Gene an- oder auszuschalten.
Für alle Lesenden, die nicht gerade einen Biologie-Leistungskurs absolviert haben, sind diese biochemischen Zusammenhänge sicher sehr detailliert. Als Fazit gilt aber, dass nicht nur die Gene eine wichtige Rolle für die Gesundheit spielen, sondern auch die Epigenetik, die durch Verhalten und Lebensstil beeinflusst wird, also z.B. was man isst und wie viel man sich bewegt. Auch wenn langfristig erhöhte Zuckerwerte epigenetische Veränderungen auslösen können, die wie ein metabolisches Gedächtnis die Funktionsweise der Gene beeinflussen, gibt es keinen Grund, sich wegen vorübergehend hoher Werte zu große Sorgen zu machen und den Mut zu verlieren. Im Gegensatz zu genetischen Veränderungen können epigenetische Veränderungen rückgängige gemacht werden. Sie verändern nicht die bleibende DNA-Sequenz eines Menschen. Dennoch spricht der Einfluss des metabolischen Gedächtnisses auf das Risiko für Komplikationen bei Diabetes für eine intensive Insulintherapie mit dem Ziel, den Blutzuckerspiegel so früh und so lange wie möglich auf einem nahezu normalen Niveau zu halten. Mit möglichst normnahen Glukosewerten und durch einen gesunden und aktiven Lebensstil sind die Chancen groß, dass Kinder mit Diabetes gute Zukunftsaussichten haben.|
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Erschienen in: Diabetes-Eltern-Journal, 2022; 13 (4) Seite 12-14
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