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© Universität Bayreuth | “Mein Typ-1-Diabetes hat mir mehr gebracht, als er mir genommen hat.”
Prof. Othmar Moser: Ich war 20 Jahre alt und Leistungssportler in einem Triathlon-Kader für die Olympischen Spiele. Bei einem Belastungstest wurden Laktat und Blutglukose gemessen. Dabei kam ein Blutzuckerwert von 400 bis 420 mg/dl heraus. Mir war schnell klar, was das bedeutet, denn damals hatte ich schon an der Uni als Tutor im Bereich Stoffwechselregulation gearbeitet. Nach einem dreistündigen Termin im Klinikum Graz bin ich mit Glukosemessstreifen und einem Bolus-Insulin nach Hause gefahren. Seither bin ich insulinpflichtig.
Auf der Rückfahrt musste ich einmal anhalten. Für einige Minuten konnte ich gar nichts denken. Heute bin ich aber relativ glücklich mit meiner Erkrankung. Auch wenn sie zunächst ein riesiger Nachteil war, entwickelte sie sich zum größten Vorteil für meine Karriere und damit meines Lebens. Ich verstehe den Diabetes auf eine Art, wie man sie nicht aus Büchern, Publikationen und Gesprächen lernen kann.
OM: Ich habe es noch etwa ein Jahr probiert, aber 30 Stunden Ausdauertraining pro Woche, dazu Kraft-, Stabilisationstraining und Regeneration, haben mich irgendwann an den Anschlag gebracht. Es hat aber überhaupt nichts mit dem Diabetes zu tun, dass ich diesen Weg nicht weitergegangen bin. Mit Typ-1-Diabetes kann man jede Profisportkarriere anstreben und erfolgreich sein. Wenn es nicht funktioniert, dann vielleicht, weil man sportmotorisch oder -physiologisch nicht gut genug ist, aber es liegt nicht am Diabetes.
Ich habe zwei Jahre ein Profiradsport-Team betreut, das nur aus Menschen mit Typ-1-Diabetes bestand und auch die verschiedenen Profilsportler, die wir im Rahmen der Challenge D begleiten, zeigen, dass der Diabetes keine Grenzen setzt. Profisportler sind sehr exakt in ihrem Diabetes-Management. Sie timen exakt, was sie essen, wann sie essen, und immer in Relation zum Training. Wer mit Diabetes Profisport machen will, muss den Diabetes wie einen Sport-Trainingsplan sehen.
Wenn es gelingt, den Trainingsplan und den Diabetes-Plan in Einklang zu bringen, dann kann man jede Sportart angehen, ohne Limitierung. Mich persönlich hat der Strom viel stärker Richtung Wissenschaft gezogen. Vor allem die Diabetologie faszinierte mich früh, schon vor der eigenen Diagnose.
© Othmar Moser | Othmar Mosers Herz schlug schon früh für die Diabetologie.
OM:Ohne meinen Typ-1-Diabetes wäre ich in meiner Karriere nicht da, wo ich bin. Mein Typ-1-Diabetes hat mir mehr gebracht, als er mir genommen hat. Natürlich gibt es Momente, in denen mich der Diabetes ärgert, zum Beispiel wenn mein Blutzucker während eines Vortrags auf 250 mg/dl steigt. Ich habe aber nie darauf gewartet, bis mir etwas zu viel wurde. Ich spreche immer alles sofort bei meiner Familie und meinen Freunden an.
Das empfehle ich auch Patienten und Patientinnen: Wenn ihr merkt, dass schlechte Phasen zu lange dauern, sucht euch Hilfe bei einem Psychotherapeuten. Je früher man sich Hilfe holt, desto besser. Später wird es schwieriger, wieder aus dem Loch herauszukommen. Dasselbe gilt auch für Eltern.
OM: Im beruflichen Alltag bei klinischen Studien arbeite ich extrem strukturiert, im Privaten eher intuitiv. Ich berechne wenig, sondern schätze eher. Ich habe aber schon fixe Schemata und Wecker hinterlegt. Ich überprüfe meine Glukosewerte sehr häufig, auch ohne Alarme. Das ist etwas, was ich jedem Menschen mit Typ-1-Diabetes auf den Weg geben möchte: Behaltet das CGM immer im Blick. Je öfter man den Glukosewert kontrolliert, desto besser kann man das Diabetes-Management gestalten.
Für mich persönlich funktioniert das perfekt. Studien bestätigen: Je öfter man den Blutzucker checkt, desto besser die Werte insgesamt. Ich rate jungen Menschen außerdem, sich auf den Diabetes einzulassen und sich intensiv mit ihm zu befassen. Wer das früh tut, gewinnt für das gesamte Leben. Das gilt auch für die Eltern. Wer zu Beginn der Diagnose ins Detail geht, viel selbst dokumentiert und ein Gefühl für den eigenen Diabetes entwickelt, wird bis zum letzten Tag davon profitieren.
Es ist wichtig, dass sich auch Familie und Freunde mit dem Diabetes befassen. Sie sollten lernen, in welchen Situationen sie wie handeln müssen. Das gibt Sicherheit. Und zuletzt: Vertraut euren Eltern. Es gibt immer Phasen im Leben, in denen man alles blöd findet, was die Eltern sagen, unabhängig davon, ob das etwas mit dem Diabetes zu tun hat. Aus der Erfahrung weiß ich, die Eltern haben meistens recht. Auch ich vertraue heute noch meinen Eltern. Sie sehen oft mehr als wir.
OM: Für eine Studie waren wir kürzlich mit 22 Kindern und Jugendlichen auf Skifreizeit in Österreich. Alle verwendeten ein Hybrid-Closed-Loop-System. Wir haben untersucht, wie sich die Zeit im Zielbereich beim Skifahren entwickelt. Besonders interessiert uns dabei immer der Sicherheitsaspekt, also ob bei sportlicher Aktivität die Zeit, die die Kinder unterhalb des Zielbereichs verbringen, steigt.
Wir haben festgestellt, dass AID-Systeme bei so einem Ski-Camp noch sehr viel Zutun benötigen. Einerseits hat uns begeistert, was AID leistet, andererseits waren wir verblüfft, wie viel wir händisch nachjustieren mussten, obwohl das System im Automodus lief. Wir machen praxisnahe Forschung und versuchen, unsere Ergebnisse immer direkt zu publizieren, damit Kinder und Eltern schnell im Alltag profitieren. Wir können nun exakte Empfehlungen dafür geben, was Kinder tun und wissen müssen, wenn sie mit Typ-1-Diabetes auf Skifreizeit sind.
© Othmar Moser | Othmar Moser (l.) im Austausch mit einer Skifreizeit-Teilnehmerin. Durch praxisnahe Forschung können Moser und sein Team jungen Menschen und deren Eltern konkrete Handlungsempfehlungen geben, z. B. für den Skiurlaub oder die Klassenfahrt.
OM: Egal ob Sommercamp oder Skifreizeit, am Anfang beobachtet man eine gewisse Zurückhaltung, die sich schnell legt, wenn die Kids verstehen, dass es den anderen genauso geht wie ihnen. Wie jedes andere Kind, wollen sie lachen, sich bewegen und in der Nacht am liebsten Rückwärtssaltos im Bett machen. Sobald es aber um ihr Diabetes-Management geht, sind sie sofort strukturiert bei der Sache.
Das fasziniert mich. Es ist schön und spannend, zuzusehen, wie sich die Kinder gegenseitig die Technik erklären und Ratschläge geben. Genau das wollen wir. Die Kids sollen nicht nur von sich selbst und von uns lernen, sondern auch von Gleichaltrigen. Nicht nur für bessere Blutzuckerwerte, sondern auch, damit es ihnen als Mensch gut geht.
OM: Es gibt zwei aktuelle Studien, die dazu wichtige Erkenntnisse liefern. Die erste zeigt: Der Hauptgrund für zu wenig Bewegung ist die Angst der Kinder und Jugendlichen bzw. deren Eltern vor Unterzuckerungen. Die zweite noch wichtigere Studie zeigt: An Tagen, an denen Kinder sich viel bewegen, ist der mittlere Glukosewert am niedrigsten und die Zeit im Zielbereich am höchsten.
Mein Team und ich arbeiten dafür, Kindern und Eltern die Ängste zu nehmen. Wir entwickeln Strategien dafür, dass Kinder mit Diabetes sich mehr bewegen – und das deutlich mehr als Kinder, die keinen Diabetes haben. Bekanntlich bewegen sich die meisten Menschen viel zu wenig. Mit der Europäischen Diabetes Assoziation schreiben wir gerade neue Empfehlungen für Hybrid-Closed-Loop-Systeme und Sport, die auch darauf zielen.
OM: Gibt man dem Leben Struktur, gibt man ihm Sinn. Das lernt man wunderschön am Typ-1-Diabetes. Man braucht eine Struktur, um nahezu normal leben zu können. Die Struktur und die Konsequenz, die ich durch den Diabetes gelernt habe, konnte ich auch in meiner wissenschaftlichen Karriere umsetzen. Ich glaube, das ist auch der Grund, weshalb ich mit 33 Jahren eine Professur für Sportmedizin bekommen habe. Die hätte ich ohne den Typ-1-Diabetes nicht.
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