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Diabetes ist anstrengend. 365 Tage und Nächte im Jahr fordert er Aufmerksamkeit. Urlaub vom Diabetes gibt es nicht. Zeit, einfach mal wieder “Luft zu holen”, Erfahrungen auszutauschen, Gemeinschaft zu genießen und dabei noch jede Menge Spaß zu haben, das bot vergangenen Mai die Freizeit “Atempause” 30 Familien, in denen Kinder mit Diabetes leben.
Inmitten von Sand und Dünengras reihen sich in Weiß, Blau und Rot gestrichene Holzhäuser aneinander. Ein Pfad aus Dielen verbindet die mit Terrassen ausgestatteten Bungalows. In der Nähe toben und lachen Kinder. Sie buddeln mit Förmchen im Sand, sausen auf dem Bobbycar umher oder planschen mit der Wasserstraße. Die Eltern der Kinder finden sich in Gruppen auf den Terrassen zusammen, unterhalten sich oder entspannen mit einem Glas Wein im Strandkorb. Bis zum Meer sind es nur wenige Meter.
Am Strand stecken die größeren Kinder die Köpfe zusammen und warten auf den Sonnenuntergang. Was Sandra Reimers im Gespräch so eindrücklich beschreibt, sind Szenen, wie man sie aus Badeorten im Sommer kennt. Auch hier, im Ferienpark Scharbeutz an der Ostsee, haben sich über das lange Himmelfahrts-Wochenende 30 Familien versammelt, um den Alltagstrubel hinter sich zu lassen. Was diese Gemeinschaft von Urlaubern jedoch so einzigartig macht: In allen Familien leben Kinder mit Diabetes.
Den Glukoseverlauf checken, Sensor oder Katheter auch ungeplant wechseln und jede Mahlzeit abwiegen. Immer Traubenzucker einpacken. Die Insulinpumpe, die piept und ungewollt für Aufmerksamkeit sorgt. Sich mit der Pflege- oder Krankenkasse streiten. Sorge darüber haben, ob es dem Kind in der Schule gut geht. Die Bedürfnisse der Brüder und Schwestern nicht aus den Augen verlieren. Bei alledem eine gesunde und erfüllende Partnerschaft führen. Familien, in denen Kinder mit Diabetes leben, kennen diese besonderen Herausforderungen.
Damit der Diabetes nicht zur Belastung für die ganze Familie wird, braucht es Momente der Entspannung und Selbstfürsorge für alle. Wie erfolgreich die Stoffwechseleinstellung der Kinder sei, hänge im großen Maße vom System Familie ab, erklärt Sandra Reimers. Aus diesem Grund hat sie gemeinsam mit Dr. Andrea Günther-Scholz vom Förderverein Mobile Diabetesschulung Schleswig-Holstein die Familienfreizeit “Atempause” organisiert.
Name: Förderverein der Mobilen Diabetesschulung Schleswig-Holstein (MDSH)
Foto: Sandra Reimers (inks) und Dr. Andrea Günther-Scholz vom Förderverein MDSH
Gründungsjahr: 2000
Ziele: Schulung von Lehr- und Erziehungskräften und Betreuungspersonen in Kitas, Schulen und Einrichtungen; Finanzierung von Schulungsmaterial, Fortbildung und Freizeitaktivitäten für Kinder; unbürokratische Hilfe für Familien
Spendenkonto des Fördervereins: MDSH e. V. | Konto-Nr.: 553 71 69 | BLZ: 218 900 22 Dithm. Volks- und Raiffeisenbank eG IBAN: DE07218900220005537169 | BIC: GENODEF1DVR
Web: www.fmdsh.de
“Ich muss jede Nacht mindestens einmal aufstehen. Es gibt auch Nächte, in denen ich vier bis fünf Mal durch den Alarm der Pumpe geweckt werde. Nicht durchzuschlafen, zehrt sehr an den Reserven”, sagt Sandra Buske. Sie ist Mutter dreier Mädchen: der 10-jährigen Lila und der 6-jährigen Zwillinge Juli und Nena. Mit Diabetes lebt Nena. “Seit der Diagnose hat sich unser Leben verändert. Wir müssen im Alltag stärker strukturieren. Wir jonglieren und machen Spagat, aber das tun wir gerne, damit es für Nena nicht kompliziert wird oder sie auf etwas verzichten muss. Das möchten wir nicht.”
So wie Familie Buske geht es auch vielen Familien, in denen es Kinder gibt, die Typ-1-Diabetes haben, weiß Sandra Reimers. Sie ist Diabetesberaterin am Klinikum Itzehoe und organisiert seit über 10 Jahren ehrenamtlich Kinder- und Jugend-Freizeiten mit dem Förderverein. Neu ist nun das Konzept der Familien-Freizeit. Die Idee entsprang dem Wunsch einer Mutter mit zwei Kindern, die beide mit Typ-1-Diabetes leben. Diese Mutter sehnte sich nach Urlaub. Ihr ging es aber nicht darum, die Kinder über Nacht abzugeben, sie hätte einfach gern mal in Ruhe einen Milchkaffee getrunken und dabei gewusst, dass die Kinder gut versorgt sind, berichtet Reimers.
Mit Betreuungsangeboten von 10 bis 16 Uhr verschaffte “Atempause” den Eltern Zeit, mal den eigenen Bedürfnissen nachzugehen und Kraft zu tanken. “Mein Mann und ich waren in der Stadt und am Strand spazieren, ohne zu überlegen, ob wir Traubenzucker oder das Blutzuckermessgerät vergessen haben. Wir waren ohne Waage im Restaurant und haben uns mal wieder über andere Themen unterhalten. Das tat uns sehr gut. Als wir zurückkamen, haben wir glückliche Kinder in die Arme geschlossen”, erzählt Sandra Buske.
Möglich machten das die 15 Betreuungskräfte, bestehend aus Ärztinnen, diabetologischem und pädagogischem Fachpersonal sowie Jugendbetreuerinnen und -betreuern. Sie kümmerten sich um insgesamt 63 Kinder und standen den Familien bei Bedarf immer zur Seite. “Wir hatten absolutes Vertrauen in das Team. Zu den jungen Betreuern konnten gerade die Jugendlichen leicht Kontakt knüpfen. Die älteren Betreuer haben viel Sicherheit ausgestrahlt”, sagt Sandra Buske. In vier Gruppen verbrachten die Kinder und Jugendlichen so Zeit mit Gleichaltrigen. Dabei wurde nicht unterschieden, wer Diabetes hatte und wer nicht. “Uns war wichtig, dass den Geschwistern nicht die Rolle von Schattenkindern zukommt, sondern dass sie genauso in erster Reihe stehen”, sagt Sandra Reimers. Auf dem Programm standen u. a. ein Ausflug in den Kletterpark, Schatzsuche, gemeinsames Picknick und viel Zeit zum Malen, Basteln, Kneten und Spielen am Strand.
Mit dabei war auch Familie Kleinert, deren 5-jähriger Sohn Vincent seit dem dritten Lebensjahr mit Diabetes lebt. Ihnen war es wichtig, dass Vincent andere Kinder mit Diabetes kennenlernt. “Am Anreisetag haben wir Kindern am Strand beim Spielen zugesehen. Plötzlich ging das Signal einer Pumpe los. ‚Wer piept?‘, fragten sie und lachten. Das war direkt ein schöner Ausblick für Vincent. Wir sahen, wie selbstständig nur wenig ältere Kinder bereits mit ihren Pumpen umgehen”, sagt Kristin Kleinert.
Für Kinder und Jugendliche sei es eine enorme Bereicherung, sich auszutauschen und zu sehen, dass auch andere die gleichen Erfahrungen im Alltag machen, erklärt Sandra Reimers. “Es ist faszinierend zu sehen, wie schnell Innigkeit zwischen den Kindern entsteht, weil sie alle im selben Boot sitzen. Das gilt auch für die Geschwister.” Die Erfahrung zeige, dass gemeinsames Erleben die Kinder stärker präge, als es klinikgebundene Schulungen können, egal wie alltagsnah diese seien.
Die Kinder seien dankbar, sich für Insulin-Injektionen nicht zur Seite drehen, den Tisch verlassen oder eine öffentliche Toilette aufsuchen zu müssen. “Die Leichtigkeit, sich nicht schämen und zurückziehen zu müssen, erleben manche Kinder bei uns zum ersten Mal”, sagt Sandra Reimers. Wie man die Diabetes-Therapie in der Öffentlichkeit umsetzt, sei ein wichtiges Thema für Familien. Die Kinder würden oft unqualifizierte Äußerungen erfahren. Auch Ausgrenzung und Mobbing seien Themen, berichtet sie. Deswegen seien Aktionen wie “Atempause” so wichtig: “Wir stärken die Kinder, indem wir sie spüren lassen, dass sie großartig sind, genau so, wie sie sind.”
Auch bei den Workshops der ehemaligen Profi-Kickboxerin Anja Renfordt ging es darum, das Selbstbewusstsein der Kinder zu fördern. Im Training mit der sechsfachen Weltmeisterin, die selbst mit Typ-1-Diabetes lebt, konnten die Kinder erfahren, welche ungeahnten Kräfte in ihnen schlummern und wie es ist, über sich selbst hinauszuwachsen. Positive Vorbilder seien wichtig für die Kinder – Menschen, die der Diabetes nicht davon abgehalten hat, ihre Ziele zu erreichen. Das mache den Kindern Mut und inspiriere sie, sagt Sandra Reimers.
Zu diesen Identifikationsfiguren zählt sie auch die Jugendbetreuerinnen und -betreuer: “Die Kinder sehen, dass andere im Ausland studiert haben und erfolgreich ihren Weg gehen.” Dass einige von ihnen früher selbst Teilnehmende der Jugendfreizeiten waren und nun als Erwachsene die Philosophie der Camps und den Gemeinschaftsgedanken “Du bist nicht allein” weitertragen, freut und fasziniert Sandra Reimers.
Dazu gehört auch Alina Pahl: “Auch wenn der Diabetes nervig sein kann, muss er kein eingeschränktes Leben bedeuten. Dieses Gefühl versuche ich als Betreuerin zu vermitteln”, sagt Pahl. Gemeinsam mit ihrer Mutter Cordula Pahl luden sie die Familien an einem Abend zum Gespräch ein. Die beiden berichteten aus 20 Jahren Leben mit Diabetes aus Sicht von Mutter und Tochter. “Es war spannend, zu hören, wie Cordula Pahl damals den Diabetes ihrer Tochter gehändelt hat”, berichtet Sandra Buske. Damit ihre Tochter an Klassenfahrten teilnehmen konnte, war Cordula Pahl als Betreuerin dabei, und zwar für alle Kinder. “Das ist natürlich manchmal ein hoher Preis, aber das Kind ist glücklich und man sieht, dass alles irgendwie möglich ist”, sagt Sandra Buske. Für die Familien seien solche Gespräche für die Akzeptanz und Bewältigung des Diabetes extrem hilfreich, so Reimers.
Ziel der Freizeit war es, die Eltern mit einem Werkzeugkoffer aus fachlichen und psychosozialen Kompetenzen auszustatten. Dazu fanden u. a. Gesprächsrunden und Workshops mit der Kinderdiabetologin Dr. Simone von Sengbusch, der Psychotherapeutin Louise Marshall sowie dem Rechtsanwalt Matthias Meyer statt. “Sich über die Dinge, die den Diabetes betreffen, zu informieren, kostet viel Zeit. Oft weiß man gar nicht, wo man gucken soll”, erzählt Sandra Buske. “Auf viele Fragen kommt man selbst gar nicht, weil man nicht weiß, dass sie auf einen zukommen können. Die Workshops gaben uns viele neue Anregungen. Es ging dabei nie um perfekte Werte, sondern um die Erfahrungen, die zeigen, wie man gut mit Diabetes leben kann.”
Für Eltern von Kindern mit Diabetes bedeutet der Erfahrungsaustausch laut Sandra Reimers vor allem eines: Entlastung. “Wir haben uns von der Freizeit erhofft, dass die Eltern viele neue Kontakte knüpfen. Ich glaube, das ist uns gelungen.” Ein starkes Netzwerk aus anderen Betroffenen, bei denen man sich Ratschläge außerhalb der Klinik holen kann, sei laut Reimers essenziell. Dann habe man Menschen an der Seite, die mitfühlen, weil sie die gleichen Themen beschäftigen. Man könne unbesorgt das Kind auch einmal in ihre Hände geben und sich darauf verlassen, dass sie sich genauso gut auskennen. Zudem sei es für die Kinder wichtig zu sehen, dass sie auch auf andere Erwachsene zählen können. Viele außenstehende Eltern würden sich nicht trauen, ein Kind mit Diabetes zu versorgen. Dann komme auch Isolation für Familien ins Spiel, so Reimers.
Bevor die Familien am Abreisetag den Heimweg antraten, organisierte das Team von “Atempause” noch ein Frühstück für alle Kinder im Gemeinschaftszelt. Währenddessen konnten die Eltern in Ruhe die Häuser räumen. “Das war großartig”, sagt Sandra Buske. “Sonst schiebt man die Kinder beim Packen immer von links nach rechts.”
Für das jährlich stattfindende Sommercamp des Fördervereins hatten sich einige Jugendliche, die bei”Atempause” dabei waren, bereits wieder verabredet, berichtet Sandra Reimers. “Man sieht, dass diese Aktionen die Kinder und Jugendlichen in ihren Bann ziehen.” Die Wiederkehrer sprechen für den Erfolg der Freizeit, den auch Kristin Kleinert und Sandra Buske ohne Einschränkungen bestätigen. Aus Erfahrung weiß Sandra Reimers, dass auf den Freizeiten Freundschaften fürs Leben entstehen. “Unsere große Tochter hat sich mit einem gleichaltrigen Mädchen angefreundet, das mit Diabetes lebt”, erzählt Sandra Buske. “Wir haben schon darauf gedrängt, dass es unbedingt noch einmal stattfinden muss.”
Die Camps für Kinder und Jugendliche gehen weiter, wann “Atempause” wieder stattfinde, sei unklar, so Reimers. Das Projekt, das sie mit Dr. Andrea Günther-Scholz ehrenamtlich konzipiert und umgesetzt hat, habe viele private Ressourcen gebunden. “Unser großer Dank geht an alle Sponsoren, die die Freizeit möglich gemacht haben. Insbesondere an die Hauptsponsoren, der Lions Club Lübecker Bucht, Novo Nordisk und Dexcom, sowie an alle Betreuerinnen und Betreuer der unterschiedlichen Fachbereiche”, sagt Sandra Reimers. Sie bricht eine Lanze für das Ehrenamt: “Viele in der Gesellschaft neigen dazu, die Jalousien runterzufahren. Doch wenn jeder nach links und rechts schaut und sein Herz auch für andere Familien öffnet, können wir weiterarbeiten und so großartige Projekte realisieren.”
Erschienen in: Diabetes-Eltern-Journal, 2023; 15 (3) Seite 18-21
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