Kinder: Eine 6 vor dem Komma?

3 Minuten

© fovito - Fotolia.com
Kinder: Eine 6 vor dem Komma?

Einmal im Jahr trifft sich die Internationale Gesellschaft für Kinderdiabetologie (ISPAD) zu ihrer Jahrestagung. Das 44. Treffen fand im Oktober in Indien statt. Über tausend Diabetologen, Diabetesberaterinnen, Ernährungsspezialisten und Psychologen kamen in Hyderabad zusammen, um sich über die aktuellen Themen auszutauschen.

Lebhafte Diskussionen gab es besonders um die Neuauflage der Behandlungsleitlinien, die – kurz vor dem Kongress und vier Jahre nach der letzten Auflage – überarbeitet worden sind. Im Zentrum stand die Kontroverse um die neuen Behandlungsziele. Während für Erwachsene schon lange ein Zielwert für den Langzeit-Blutzucker HbA1c von unter 7 % (unter 53 mmol/mol) aufgerufen wurde, war man in der Kinderdiabetologie bislang mit Werten von unter 7,5 % (unter 58 mmol/mol) als Ziel zufrieden.

Ehrgeizige Ziele, bessere Ergebnisse

Vorausgesetzt, dass Patienten Zugang zu modernen Medizinprodukten wie Glukosesensoren, Insulinpumpen und modernen Insulinpräparaten haben, soll nach der neuen Leitlinie jetzt der niedrige Zielwert für Erwachsene auch für Kinder und Jugendliche gelten: Ziel beim HbA1c ist demnach eine 6 vor dem Komma.

Während manche Experten argumentieren, dass solche Werte weltweit für weit mehr als die Hälfte der Patienten bislang unerreichbar sind und eine Senkung des Zielwerts nur Frustration bewirkt, hatte die Leitliniengruppe gute Argumente für eine Änderung der Empfehlungen gesammelt. Auch wenn internationale Registerdaten belegen, dass auch in Deutschland besonders während der Pubertät fast drei Viertel der Patienten diesen Laborwert gegenwärtig nicht erreichen, so sind internationalen Vergleichsstudien zufolge die Ergebnisse durchschnittlich deutlich besser, je niedriger die Stoffwechselziele der jeweiligen Klinik sind.

Schwedisches Register: niedrige Werte von Anfang an nötig

Zusätzliche Bedeutung bekam die Diskussion durch eine im August in der Fachzeitschrift Lancet publizierte Studie aus Schweden. Frauen, die vor dem zehnten Lebensjahr an Typ-1-Diabetes erkrankt waren, starben im Durchschnitt fast 18 Jahre früher als Frauen, die nicht an Diabetes leiden. Männer in der entsprechenden Situation verloren fast 14 Lebensjahre. Die Lebenszeit von Patienten, die im Alter von 26 bis 30 Jahren diagnostiziert wurden, verkürzte sich im Durchschnitt um zehn Jahre.

Die Studie basiert auf dem weltweit einmaligen schwedischen Register, das 27 195 Personen mit Typ-1-Diabetes durchschnittlich zehn Jahre lang überwacht hat. Die Gruppe wurde mit 135 178 Kontrollen aus der Allgemeinbevölkerung ohne Diabetes verglichen, wobei die Verteilung hinsichtlich Geschlecht, Alter und Wohnsitz statistisch gleich war. Die Wahrscheinlichkeit schwerer kardiovaskulärer Erkrankungen (z. B. Herzinfarkt) erwies sich im Allgemeinen bei Patienten, die vor ihrem zehnten Lebensjahr an Typ-1-Diabetes erkrankt waren, um das 30-Fache höher als bei Kontrollen.

Araz Rawshani, der Erstautor der Publikation, sagte: „Natürlich muss die Studie auch im Hinblick auf den enormen Fortschritt betrachtet werden, der in den letzten Jahrzehnten gemacht wurde. Die Behandlung von Typ-1-Diabetes ist heutzutage sehr hoch entwickelt und umfasst moderne Möglichkeiten zur Blutzuckermessung, der Insulingabe und der ganzheitlichen Behandlung.“

Viele Patienten und Patientinnen der Registerstudie hatten Diabetes zu einer Zeit bekommen, in der die Behandlungsmöglichkeiten mit denen von heute nicht vergleichbar waren. Der Zusammenhang zwischen HbA1c und Folgeerkrankungen wurde auch erst im Jahre 1993 durch die DCCT-Studie eindeutig belegt.

HbA1c-Senkung durch Technologie

Denn auch das zeigen die schwedischen Registerdaten: Das Risiko für Herz-Kreislauf-Probleme ist eng mit dem durchschnittlichen HbA1c-Wert verknüpft. „Diejenigen, die gegenwärtig an Diabetes erkrankt sind, und diejenigen, die heute an der Krankheit erkranken, werden in den kommenden Jahren ein längeres und gesünderes Leben führen können“, führten die schwedischen Forscher aus.

Einschränkungen bei den ehrgeizigen Zielwerten empfahl die ISPAD-Leitliniengruppe für Patienten, die über keinen Zugang zu regelmäßiger Betreuung und modernen Therapieverfahren verfügen oder eine Unterzuckerungswahrnehmungsstörung haben. Für Patienten, die dieses Stoffwechselziel nicht erreichen können, wurde eine stufenweise Verbesserung unter multidisziplinärer Betreuung und begleitender psychologischer Beratung unter Einsatz moderner Diabetestechnologie empfohlen.

Die Leitliniengruppe führte weiter aus, dass besonders während der Remissionsphase zu Krankheitsbeginn ein noch niedrigerer HbA1c-Zielwert von unter 6,5 % (unter 47,5 mmol/mol) angestrebt werden soll. Diesen niedrigen Zielwert empfiehlt auch die britische Leitliniengruppe NICE für Kinder allgemein und die ISPAD für alle, die dies ohne Beeinträchtigung ihrer Lebensqualität und ohne häufige Unterzuckerungen erreichen können. Für die Diabetesteams rund um die Welt ist es jetzt eine große Herausforderung, gemeinsam mit ihren Patienten unter Einsatz aller neuen Behandlungsmethoden Wege zu finden, um diese Ziele zu erreichen.

Die Situation in Deutschland

Der Deutsche Gesundheitsbericht Diabetes 2019 (vorgelegt zum Weltdiabetestag am 14. November) beschreibt die aktuelle Situation: In Deutschland werden über die Hälfte der Kinder und Jugendlichen mit Insulinpumpen behandelt. Besonders in den letzten zwei Jahren hat die Verwendung von kontinuierlichen Glukosesensoren geradezu sprungartig zugenommen.

Auch wenn insbesondere zwischen dem 10. und 25. Lebensjahr die durchschnittlichen HbA1c-Werte heute noch deutlich vom Leitlinien-Zielwert abweichen, so zeigt sich insgesamt eine kontinuierliche Verbesserung des Durchschnitts-HbA1c bei gleichzeitigem Rückgang von schweren Unterzuckerungen über die letzten Jahre. Grund genug, die neuen Zielwerte als Motivation im Alltag und nicht als unerreichbare „Schulnote“ zu verstehen.


von Prof. Dr. med. Thomas Danne
Kinderdiabetologe, Zentrum für Kinder- und Jugend­medizin „Auf der Bult“,
Janusz-Korczak-Allee 12, 30173 Hannover
E-Mail: danne@hka.de

Erschienen in: Diabetes-Eltern-Journal, 2018; 10 (4) Seite 6-7

Diabetes-Anker-Newsletter

Alle wichtigen Infos und Events für Menschen mit Diabetes – kostenlos und direkt in deinem Postfach. Mit unserem Newsletter verpasst du nichts mehr.

Ähnliche Beiträge

Diagnose Typ-1-Diabetes: Das Leben neu sortiert

Diagnose Typ-1-Diabetes: Das Leben neu sortiert | Foto: privat

9 Minuten

Exzellent versorgt: tk pharma trade – Kompetenz für Menschen mit Diabetes

Seit über 30 Jahren ist tk pharma trade Partner für moderne Diabetesversorgung. Mit innovativen Lösungen, persönlicher Beratung und regionaler Nähe begleiten wir Menschen mit Diabetes zuverlässig – und setzen gleichzeitig auf Nachhaltigkeit, soziale Verantwortung und Service-Innovationen.

2 Minuten

Anzeige

Diabetes-Anker-Newsletter

Alle wichtigen Infos und Events für Menschen mit Diabetes – kostenlos und direkt in deinem Postfach. Mit unserem Newsletter verpasst du nichts mehr.

Über uns

Geschichten, Gemeinschaft, Gesundheit: Der Diabetes-Anker ist das neue Angebot für alle Menschen mit Diabetes – live, gedruckt und digital. Der Diabetes-Anker und die Community sind immer da, wo du sie brauchst. Für alle Höhen und Tiefen.

Community-Frage

Mit wem redest du
über deinen Diabetes?

Die Antworten werden anonymisiert gesammelt und sind nicht mit dir oder deinem Profil verbunden. Achte darauf, dass deine Antwort auch keine Personenbezogenen Daten enthält.

Werde Teil unserer Community

Folge uns auf unseren Social-Media-Kanälen

Community-Feed

  • sveastine postete ein Update in der Gruppe In der Gruppe:Diabetes und Psyche vor 1 Woche

    hallo, ich hab schon ewig Diabetes, hab damit 4 Kinder bekommen und war beruflich unterschiedlich unterwegs, in der Pflege und Pädagogik. Seit ein paar Jahren funktioniert nichts mehr so wie ich das möchte: die Einstellung des Diabetes, der eigentlich immer gut lief, Sport klappt nicht mehr….ich bin frustriert und traurig..so kenne ich das nicht.. Geht es jemanden ähnlich? Bin 53…Viele grüße. Astrid

    • mayhe antwortete vor 1 Woche

      Liebe Astrid! Ich gerade 60 geworden und habe seit 30 Jahren Typ 1, aktuell mit Insulinpumpe und Sensor versorgt. Beim Diabetes läuft es dank des Loop gut, aber Psyche und Folgeerkrankung, Neuropathie des Darmes und fehlende Hypoerkennung, machen mir sehr zu schaffen. Bin jetzt als Ärztin schon berentet und versuche ebenfalls mein Leben wieder zu normalisieren. Kann gut verstehen, wie anstrengend es sein kann. Nicht aufgeben!! Liebe Grüße Heike

    • sveastine antwortete vor 1 Woche

      @mayhe: Hallo liebe Heike, danke für deine schnelle Antwort, das hat mich sehr gefreut. Nein aufgeben ist keine Option, aber es frustriert und kostet so viel Kraft. Ich hoffe dass ich beruflich noch einen passenden Platz finde. Und danke dass du dich gemeldet hast und von deiner Situation berichtet. Das ist ja auch nicht einfach. Und ich wünsche auch dir eine gewisse Stabilisierung…jetzt fühle ich mich mit dem ganzen nicht mehr so alleine. Was machst du denn sonst noch? Viele Grüße Astrid

    • Liebe Astrid! Ja, das Leben mit Diabetes ist echt anstrengend. Es kommt ja auf den normalen Wahnsinn noch oben drauf. Ich habe den Diabetes während der Facharztausbildung bekommen und ehrgeizig wie ich war auch damit beendet. Auch meinen Sohn, 26 Jahre, habe ich mit Diabetes bekommen. Hattest bei den Kindern auch schon Diabetes? Leider bin ich von Schicksalsschlägen dann nicht verschont geblieben. Was dann zu der heutigen Situation geführt hat. Ich habe durchgehalten bis nichts mehr ging. Jetzt backe ich ganz kleine Brötchen, freue mich wenn ich ganz normale kleine Dinge machen kann: Sport, Chor, Freunde treffen, usw. Ich würde mich zwar gerne aufgrund meiner Ausbildung mehr engagieren, dazu bin ich aber noch nicht fit genug. Was machst du so und wie alt sind deine Kinder? Bist du verheiratet? Liebe Grüße Heike

  • stephanie-haack postete ein Update vor 1 Woche, 1 Tag

    Wir freuen uns auf das heutige virtuelle Community-MeetUp mit euch. Um 19 Uhr geht’s los! 🙂

    Alle Infos hier: https://diabetes-anker.de/veranstaltung/virtuelles-diabetes-anker-community-meetup-im-november/

  • Hallo Zusammen,
    ich reise seit meinem 10. Lebensjahr mit Diabetesequipment…
    Auf dem Segelboot mit meinen Eltern, auf Klassenfahrt in den Harz direkt nach meiner Diagnose 1984. Gerne war ich wandern, am liebsten an der Küste. Bretagne, Alentejo, Andalusien, Norwegen. Zum Leidwesen meiner Eltern dann auch mal ganz alleine durch Schottland… Seit einigen Jahren bin ich nun als Sozia mit meinem Mann auf dem Motorrad unterwegs. Neben Zelt und Kocher nimmt das Diabeteszeug (+weiterer Medis) einen Großteil unseres Gepäcks ein. Ich mag Sensor und Pumpe- aber das Reisen war „früher“ leichter. Im wahrsten Sinne es Wortes. Da eben nicht so viel Platz für Klamotten bleibt, bleiben wir (noch) gerne in wärmeren Regionen. Wo ist bei fast 40 Grad Sonnenschein der kühlste Platz an einem Motorrad? Und was veranstalten Katheter und Schlauch da schon wieder unter dem Nierengurt? Nach einem Starkregen knallgefüllte, aufgeplatzte Friotaschen auf den Motorradkoffern, bei den Reisevorbereitungen zurechtgeschnippelte Katheterverpackungen, damit einer mehr in die Tupperdose passt… Oft muss ich über so etwas lachen- und bin dankbar, dass mir noch nichts wirklich bedrohliches passiert ist.
    Im September waren wir auf Sardinien und auf dem Rückweg länger in Südtirol. Ein letztes Mal mit meiner guten, alten Accu-Check Combo. Jetzt bin ich AID´lerin und die Katheter sind noch größer verpackt… 😉
    Mein „Diabetesding“ in diesem Urlaub war eine sehr, sehr sehr große Sammlung von Zuckertütchen. Solche, die es in fast jedem Café gibt. Die waren überall an mir… in jeder Tasche, in der Pumpentache, überall ein- und zwischengeklemmt. Und liegen noch heute zahlreich im Küchenschrank. Nicht, weil sie so besonders hübsch sind und / oder eine Sammlereigenschaft befriedigen… Ich habe beim Packen zu Hause auf einen Teil der üblichen Traubenzuckerration verzichtet, da ich nach jedem Urlaub ausreichend davon wieder mit nach Hause schleppe.
    Da wollte ich wohl dann bei jeder sich bietenden Gelegenheit sicherstellen, bei Unterzuckerungen trotzdem ausreichend „Stoff“ dabei zu haben…
    Ich freue mich auf den nächsten Urlaub und bin gespannt, was für eine Marotte dann vielleicht entsteht. Und, ob ich vom AID wieder in den „Basalratenhandbetrieb“ schalte.
    Die Marotte allerdings kündigt sich schon an. Da ich ja nun das Handy dringend benötige, habe ich bereits eine Sicherungsleine an Handy und Innentasche der Jacke befestigt. So kann ich das Handy zum Fotografieren oder für das Diabetesmanagement heraus nehmen -ohne dass es die Alpen hinunter- oder ins Wasser fällt. Diabetesbedingte Paranoia. 😉
    Wenn ´s weiter nichts ist… .
    Ich würde übrigens lieber ohne Erkrankungen reisen. Aber es hilft ja nichts… und mit Neugierde, Selbstverantwortung und ein bisschen Mut klappt es auch so.
    Lieben Gruß und viel Vorfreude auf die nächsten Urlaube
    Nina

    • Hallo Nina,

      als unser Kind noch kleiner war, fand ich es schon immer spannend für 2 Typ1 Dias alles zusammen zu packen,alles kam in eine große Klappbox.
      Und dann stand man am Auto schaute in den Kofferraum und dachte sich oki wohin mit dem Zuckermonster,es war also Tetris spielen im Auto ;). Für die Fahrten packen wir uns genug Gummibärchen ein und der Rest wird zur Not dann vor Ort gehohlt.
      Unsere letzte weite Fahrt war bis nach Venedig

Verbände