Warum greifen wir wider besseres Wissen zu Pommes statt Salat?

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Warum greifen wir wider besseres Wissen zu Pommes statt Salat?

Viel Gemüse und Obst, am besten fünf Portionen am Tag. Vollkorn statt Weißmehl, wenig Zucker, lieber Fisch als Wurstwaren und bitte einen großen Bogen um Fast-Food-Ketten machen… Was eine gesunde Ernährung ausmacht, hat sich mittlerweile in weiten Kreisen der Bevölkerung herumgesprochen. Ebenso ist bekannt, dass gesundes Essen nicht fad und eintönig schmecken muss und dass man sich an vollwertiger Kost durchaus sattessen kann. Und trotzdem gelingt es selbst den Aufgeklärten unter uns nur selten, diesen Empfehlungen wirklich zu folgen.

Quelle: pixabay

Essen ist ein emotional gesteuerter kultureller Akt

Pommes schlägt Salat – doch warum ist das eigentlich so? Um diese spannende Frage ging es in dem Eröffnungsvortrag beim Kongress Ernährung 2018, den ich im Juni in Kassel besucht habe. Am Gehirn liegt es – meinte Privatdozent Dr. Thomas Ellrott, Ernährungspsychologe aus Göttingen. Und an kulturellen Zusammenhängen, sagte Professor Dr. Gunther Hirschfelder, der in Regensburg vergleichende Kulturwissenschaften lehrt. Für Experten sei Ernährung eine stoffliche Angelegenheit und damit rational zu erfassen. Für „die Menschen da draußen“ hingegen sei Essen ein emotional gesteuerter kultureller Akt. Insbesondere für Menschen mit chronischen Erkrankungen sei Essen sogar oft noch stärker emotional besetzt als für Gesunde.

Beim Essen punktet das intuitive System, das schnelle Entscheidungen trifft

„In unserem Gehirn sind zwei Bereiche für Entscheidungen zuständig“, erklärte Dr. Ellrott. „Das intuitive System, eine Art Autopilot, der sich an Gewohnheiten orientiert und deshalb sehr schnell reagiert – auch dann, wenn das Gehirn gerade mit anderen Arbeiten beschäftigt ist. Und das räsonierende System, das auf Basis von Sachinformationen entscheidet.“ Letzteres erfordert für den Entscheidungsprozess allerdings sehr viele Ressourcen: „Das Gehirn ist dann voll ausgelastet und hat keine Kapazitäten mehr für andere Dinge.“ Allerdings seien die Gehirne von Menschen im heutigen schnelllebigen Alltag und digitalen Dauerstress bereits komplett ausgelastet: „Da bleibt kein Raum mehr für langwierige Ernährungsentscheidungen, deshalb tendieren wir beim Essen zum intuitiven System, das schnelle Entscheidungen trifft.“

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Konsummuster als Ausdrucksmittel unserer Identität

Die Gewohnheiten, die das intuitive System für seine Entscheidung blitzschnell heranzieht, sind wiederum stark kulturell geprägt. Prof. Hirschfelder erklärte: „In meiner Jugend wurden Menschen noch in politisch links oder rechts unterteilt, das war unser Erklärungsmodell für nahezu alles. Doch heute wächst eine ideologiefreie Generation heran, die sich vor der ganz großen Weltdeutung scheut.“ Für viele von ihnen sei daher nun das Essen zu einer Art Ersatzreligion geworden, was auch den Zulauf zu speziellen Ernährungsformen wie Veganismus, Steinzeit-Diät oder glutenfreier Kost erkläre. Für ihre Verfechter hätten diese besonderen Ernährungsformen einen kulturellen Zusatznutzen, denn sie könnten auf der Suche nach Halt und Orientierung – ähnlich wie eine Religion – soziale Zugehörigkeit stiften. „Heute fungieren Konsummuster als Ausdrucksmittel unserer Identität“, meinte Prof. Hirschfelder, „wer sich über die entsprechenden Gruppen in den sozialen Medien einem bestimmten Ernährungsstil verschreibt, der wird aufgenommen wie in eine Glaubensgemeinschaft.“

Am Kühlschrank der Überregulierung durch die moderne Welt entfliehen

Die Identifikation mit einem bestimmten Ernährungsstil führe zu einem Gefühl der Selbstwirksamkeit, das Menschen im Alltag sonst schnell abhandenkommt. „Denn wir leben ja in einer Welt der Hypermoral und Überwachung, in der wir den ganzen Tag reguliert und gesteuert werden“, betonte Prof. Hirschfelder, am Kühlschrank wollten viele genau dieser Überregulierung von außen dann entfliehen. Und während sich manche Zeitgenossen freiwillig dem Diktat eines trendigen Ernährungsstils unterwerfen, gibt es daneben auch die Fraktion der Rücksichtslosen: „Sie verhalten sich rücksichtslos gegenüber dem eigenen Körper, frei nach dem Motto ‚Ich gönne mir das jetzt’“, erklärte der Kulturwissenschaftler. „Hinzu kommt die wachsende soziale Spaltung unserer Gesellschaft. Es gibt einfach immer mehr Menschen, die schlicht ganz andere Sorgen haben, als über richtiges Essen und Trinken nachzudenken, weil sie Schulden haben, zwei Jobs arbeiten müssen und ihre Lebenssituation als ungerecht wahrnehmen. Da hat man dann keine Lust, sich dem moralischen Ernährungsimperativ der Mehrheitsgesellschaft zu unterwerfen.“

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Ein Moment des Innehaltens hilft, das automatisierte Verhalten zu steuern

Die beiden Experten Prof. Hirschfelder und Dr. Ellrott waren einig, dass zwei Generationen Ernährungsaufklärung nicht allzu viel gebracht haben. Trotzdem sehen sie sinnvolle Ansatzpunkte, mit denen man Verhaltensänderungen erreichen kann. Um das gewohnheitsgesteuerte intuitive System zu beeinflussen, rät Dr. Ellrott zum Einüben neuer Rituale. „Früher hat man Menschen, die bei jedem Gang zur Toilette den Kühlschrank plündern, geraten, vor dem Kühlschrank immer erst eine Kerze anzuzünden.“ Der damit verbundene Moment des Innehaltens helfe, sich das eigene automatisierte Verhalten bewusst zu machen und zu steuern. „Heute kann man zum Beispiel mit Apps zur Selbstbeobachtung Zwischenschritte und Reflexion einbauen, wenn man sein Verhalten modifizieren möchte.“

Vetorecht gegenüber dem verfressenen Autopiloten

Der Vortrag hat mich zum Nachdenken gebracht. Wir Menschen sind also trotz aller Bildung und modernen Aufklärung immer noch ziemlich simpel gesteuert. Und eine wirklich einfache Formel, diese uralte Steuerung zu überlisten, hatten die beiden Wissenschaftler letztlich nicht parat. Immerhin kann ich den letzten Punkt aus meiner eigenen Erfahrung bestätigen: Dokumentation und Apps können einem unbedachtes Verhalten bewusst machen, sodass man ggf. noch rechtzeitig die Notbremse ziehen kann. Für mich hat allein mein Typ-1-Diabetes bereits einen gewissen erzieherischen Effekt: Da ich genau weiß, dass ein schneller (und ungesunder) Snack zwischendurch meinen Blutzucker nach oben treibt und Insulin erfordert, muss ich vorher innehalten. Glukosewert messen, Insulindosis berechnen, alles in die App eintragen… Das sind immerhin drei Arbeitsschritte, in denen mein langsamer Verstand die Chance hat, gegenüber dem verfressenen Autopiloten Veto einzulegen. Und auch das Kalorienzählen via App hilft dabei, wieder die Oberhand zu gewinnen: Wenn ich Lust auf einen Schokoriegel oder eine Tüte Chips habe und gleichzeitig sehe, dass dieser ungesunde Snack mir meine Tages-Kalorienbilanz gründlich verhagelt und ich mindestens 10.000 Schritte extra gehen müsste, um ihn zu kompensieren – dann vergeht mir oft die Lust und ich lasse es lieber bleiben.

Welche Tipps habt ihr, um euren Autopiloten und seine spontane Lust auf ungesunde Essensentscheidungen auszutricksen?

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  • Hallo Zusammen,
    ich reise seit meinem 10. Lebensjahr mit Diabetesequipment…
    Auf dem Segelboot mit meinen Eltern, auf Klassenfahrt in den Harz direkt nach meiner Diagnose 1984. Gerne war ich wandern, am liebsten an der Küste. Bretagne, Alentejo, Andalusien, Norwegen. Zum Leidwesen meiner Eltern dann auch mal ganz alleine durch Schottland… Seit einigen Jahren bin ich nun als Sozia mit meinem Mann auf dem Motorrad unterwegs. Neben Zelt und Kocher nimmt das Diabeteszeug (+weiterer Medis) einen Großteil unseres Gepäcks ein. Ich mag Sensor und Pumpe- aber das Reisen war „früher“ leichter. Im wahrsten Sinne es Wortes. Da eben nicht so viel Platz für Klamotten bleibt, bleiben wir (noch) gerne in wärmeren Regionen. Wo ist bei fast 40 Grad Sonnenschein der kühlste Platz an einem Motorrad? Und was veranstalten Katheter und Schlauch da schon wieder unter dem Nierengurt? Nach einem Starkregen knallgefüllte, aufgeplatzte Friotaschen auf den Motorradkoffern, bei den Reisevorbereitungen zurechtgeschnippelte Katheterverpackungen, damit einer mehr in die Tupperdose passt… Oft muss ich über so etwas lachen- und bin dankbar, dass mir noch nichts wirklich bedrohliches passiert ist.
    Im September waren wir auf Sardinien und auf dem Rückweg länger in Südtirol. Ein letztes Mal mit meiner guten, alten Accu-Check Combo. Jetzt bin ich AID´lerin und die Katheter sind noch größer verpackt… 😉
    Mein „Diabetesding“ in diesem Urlaub war eine sehr, sehr sehr große Sammlung von Zuckertütchen. Solche, die es in fast jedem Café gibt. Die waren überall an mir… in jeder Tasche, in der Pumpentache, überall ein- und zwischengeklemmt. Und liegen noch heute zahlreich im Küchenschrank. Nicht, weil sie so besonders hübsch sind und / oder eine Sammlereigenschaft befriedigen… Ich habe beim Packen zu Hause auf einen Teil der üblichen Traubenzuckerration verzichtet, da ich nach jedem Urlaub ausreichend davon wieder mit nach Hause schleppe.
    Da wollte ich wohl dann bei jeder sich bietenden Gelegenheit sicherstellen, bei Unterzuckerungen trotzdem ausreichend „Stoff“ dabei zu haben…
    Ich freue mich auf den nächsten Urlaub und bin gespannt, was für eine Marotte dann vielleicht entsteht. Und, ob ich vom AID wieder in den „Basalratenhandbetrieb“ schalte.
    Die Marotte allerdings kündigt sich schon an. Da ich ja nun das Handy dringend benötige, habe ich bereits eine Sicherungsleine an Handy und Innentasche der Jacke befestigt. So kann ich das Handy zum Fotografieren oder für das Diabetesmanagement heraus nehmen -ohne dass es die Alpen hinunter- oder ins Wasser fällt. Diabetesbedingte Paranoia. 😉
    Wenn ´s weiter nichts ist… .
    Ich würde übrigens lieber ohne Erkrankungen reisen. Aber es hilft ja nichts… und mit Neugierde, Selbstverantwortung und ein bisschen Mut klappt es auch so.
    Lieben Gruß und viel Vorfreude auf die nächsten Urlaube
    Nina

    • Hallo Nina,

      als unser Kind noch kleiner war, fand ich es schon immer spannend für 2 Typ1 Dias alles zusammen zu packen,alles kam in eine große Klappbox.
      Und dann stand man am Auto schaute in den Kofferraum und dachte sich oki wohin mit dem Zuckermonster,es war also Tetris spielen im Auto ;). Für die Fahrten packen wir uns genug Gummibärchen ein und der Rest wird zur Not dann vor Ort gehohlt.
      Unsere letzte weite Fahrt war bis nach Venedig

  • gingergirl postete ein Update vor 2 Wochen, 1 Tag

    Hallo zusammen meine name ist chiara und ich bin seit knapp 3 monaten mit der diagnose diabetes typ 1 diagnostiziert. Eigentlich habe ich es recht gut im griff nach der diagnose die zweite woche waren meine werte schon im ehner normalen bereich und die ärzte waren beeindruckt das es so schnell ging da ich aber alles durch die ernährung verändert habe und strickt mich daran halte war es einfach und man sah es sofort.
    Ich habe ein paar Fragen kann man überall am oberarm den sensor ansetzten( da ich ihn jetzt eher etwas hoch habe beim muskel) und muss man jeden dexcom g7 sensor kalibrieren am anfang beim wechseln? .
    Und ich habe bei den overpatch pflastern immer so viel kleberesten am arm kann das am pflaster liegen? Weil es ist ein transparentes und ich habe das gefühl es kriegt wie keine luft… Ich hab mir jetzt nur mal neue pflaster bestellt aber bei einem ist kein loch wo der dexcom ein löchli hat
    Und wie ist das bei euch wegen abnehmen funktioniert das oder nicht?
    Und wie spritzt ihr wenn ihr ihn der Öffentlichkeit seit an einem fest /Messe oder so?
    Da ich nicht immer auf die Toilette renne kann?
    Danke schonmal im Voraus

    Uploaded Image
    • Hallo,

      Als ich noch die ICT Methode hatte habe ich bei Konzerten oder Messen mir das Kurzzeitinsulin in den Bauch gespritzt und das Langzeit oben am Gesäß.Hat meist keiner mitbekommen.
      Meinen Sensor setzte ich oben am Arm,ist für mich angenehmer 🙂
      Ich bin froh das die Technik so gut ist und nicht mehr so Steinzeitmäßig wie vor 42 Jahren *lach*

      LG Sndra

    • moira antwortete vor 1 Woche

      Hallo Chiara! Mit dem Spritzen habe ich es wie Sandra gemacht. Abnehmen ist echt schwierig – ich komme da nicht gut weiter, ich muss aber auch für zwei weitere Leute kochen und deren Essenswünsche sind da nicht unbedingt hilfreich. LG

  • hexle postete ein Update vor 2 Wochen, 2 Tagen

    Hat jemand Tipps bei einer Pfalsterallergie gegen dexcom g6. Ich muss die vorhandenen Sensoren noch verwenden, bis die Umstellung auf g7 durch ist.

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