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Das Echt Essen-Gasthaus im Januar: Die phantasievolle Naturküche von Raimar Pilz schmeckt hervorragend und erquickt Körper und Seele.
Endlich sind sie angekommen, Annett Ronneberger und Raimar Pilz, das sympathische Lebens- und Wirtepaar: Ein lichtdurchfluteter Raum, elegant eingedeckte Holztische und eine große offene Showküche – das ist die Genuss-Apotheke in Bad Säckingen, der kleinen, feinen Stadt bei Basel mit der wunderschönen Holzbrücke über den Rhein.
Bis vor wenigen Monaten wirteten die beiden einige hundert Meter entfernt in der Fuchshöhle, die ich im August 2009 als erstes Echt Essen-Gasthaus vorstellte.
Begeistert war ich damals schon von einer Küche, die lange bevor es Mode wurde, bewusst mit wilden, selbst gesammelten Kräutern arbeitete, sich ein Netz eigener handwerklicher Erzeuger aufbaute.
War die Fuchshöhle ein lauschiges, verwinkeltes Traditions-Gasthaus mit weit entfernter Küche einen Stock höher, ist die frühere Rheintal-Apotheke ein Ort, wo die Wege kurz sind, wo eine kommunikative Atmosphäre herrscht, wo jeder verfolgen kann, was gekocht wird. Hier ist der Koch präsent, hier ist er ansprechbar, hier ist seine Küche aber auch transparent.
Vier Gänge bestellte ich – und ließ mir genau zeigen, wie sie zubereitet werden. Obwohl der Name Apotheke vielleicht anderes suggeriert, steht absolut der Genuss im Vordergrund. Das Wort Apotheke versteht Pilz, den ich schon vor rund zehn Jahren als sensiblen Aromenkoch mit eigenem Kräutergarten an der Ostsee kennen lernte, so:
„Früher konnten die Apotheker auch nur mit den Mitteln aus der Natur helfen – und daran will ich anknüpfen“. Damit führt er die Tradition von Paracelsus fort, dem größten Arzt des Mittelalters, der auch im nahen Basel wirkte, und der postulierte: „Alle Wiesen, alle Äcker sind Apotheken“.
Funktioneller Faktor FF heißt eine Beschreibung von mir unter jedem Gericht, wo ich auf die Gesundheitswirkungen kurz eingehe – was Raimar Pilz so detailliert nie machen würde. Entwickelt habe ich diesen Ansatz in meinem Buch Schönkost.
Aus dem eigenen Garten ist der Nüsslisalat, wie im Südbadischen der Feldsalat heißt, weil er klein wie eine Nuss ist, wie eine Nuss schmeckt. Das nussige Aroma ergänzen Schwarzwälder Walnüsse. Behutsam mischt Raimar Pilz leicht bitteren Löwenzahn aus der Normandie dazu, den er vom kurzen Weihnachtsurlaub mitgebracht hat. Angemacht wird der Salat mit einer Vinaigrette aus Senf, Walnussöl (mein Lieblingsöl), weißem Balsamico, Salz und Melange Noir, eine Pfeffermischung vom Gewürzkönig Ingo Holland.
Dazu brät Raimar Pilz zwei Scheiben von der Wildhasenleber – und denkt an seinen Lehrmeister Joachim Wissler, inzwischen Deutschlands bester Koch, „der jedes Mal explodiert ist, wenn ich die Leber zwei Sekunden zu lange auf dem Herd hatte“.
Die Standpauke hat gewirkt, die Wildleber war saftig-perfekt. Das ist ein typisches Merkmal der Pilz-Küche: Ein so seltenes Produkt wie frische Hasenleber hat er nur für kurze Zeit, weshalb er gerne die Karte alle zwei, drei Tage wechselt. Wer also hierherkommt, schärfe seine Sinne, sei offen für positive Überraschungen.
Funktioneller Faktor FF: Der Feldsalat ist botanisch mit dem Baldrian verwandt, ist als „Schlafsalat“ genau das Richtige, um uns im Winter „herunterzuholen“. Die Bitterstoffe des Löwenzahns kurbeln sanft das Verdauungsfeuer an. Walnüsse sind bestes Brain-Food und sogar Schlankmacher, wie die Wissenschaft aktuell festgestellt hat – nachdem die Nüsse jahrelang als Dickmacher geschmäht wurden.
Je länger ich mich mit Ernährung beschäftige, desto mehr entdecke ich alchimistische Züge in der Oekotrophologie. Ach, ja, die Leber strotzt vor schön machenden B-Vitaminen.
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Tiefgründig intensiv schmeckt diese Essenz von der Schwarzwurzel, in der kleinst geschnittenes Gemüse schwimmt sowie ein Kastanienravioli, alles gewürzt mit Kerbel. Das hört sich einfach an – ist aber das Ergebnis eines aufwendigen Herstellungsprozesses: Die Abschnitte der geschälten Schwarzwurzel werden angeröstet, dazu kommen Wurzelgemüse, Lauch und Wasser.
Der Sud simmert sechs Stunden. Alles wird abgesiebt und mit Kalbsfonds aufgegossen. Und der hat es in sich: 20 Kilo Kalbsknochen werden ohne Fett angeröstet, kommen dann in einen Topf mit 40 Liter Wasser und drei Liter Rotwein. Das Ganze wird zwei Stunden aufgekocht, einen Tag stehen gelassen. Anschließend durch ein Tuch passiert – und auf 1,5 Liter Fonds eingekocht. Ein ungeheurer Aufwand für eine scheinbar simple Suppe. Ein Aufwand, den die meisten Köche scheuen. Um so schöner, wenn es so etwas noch gibt.
Funktioneller Faktor FF: Würde der Schwarzwurzel-Sud mit Gemüsefonds aufgegossen, wäre die Suppe ein perfekter Basenbildner. Mit dem Kalbsfonds strotzt die Essenz zwar vor Geschmack, ist aber möglicherweise ein Säurebildner. Auf jeden Fall sind aber die lebenswichtigen Mineralien aus den Knochen in dem Fonds. Und als basisches Gegengewicht fungiert ja die Kastanie, die ich in diesem Fall stärker einsetzen würde.
Ein perfekter Gang: Der Winterkabeljau Skrei mit sanft gebratenem Schwarzwälder Speck auf einem Bett von Meerrettich-Mousse. Garniert mit Lauchstreifen und zart-scharfen asiatischen Kresseblättchen. Aber was sind die kleinen Türmchen vorne? Das sind selbst konfierte, also sanft erhitzte Kerbelknollen, die aus Frankreich stammen, leicht süßlich schmecken. Wunderbar!
Genau zeigen ließ ich mir die Fischzubereitung: Bei exakt 55 Grad zieht der Fisch Sous Vide (also eingeschweißt im Wasserbad) sechs Minuten lang. Das ist wichtig, denn ab 62 Grad flockt das Eiweiß aus, was nicht schön aussieht (die weißen Flecken, etwa beim Lachs), die Vitalität und den Geschmack mildert. Anschließend wird der Fisch kurz auf der Haut gebraten, damit das tranige Fett heraustropft, was das „Fischige“ eliminiert.
Ganz zum Schluss wird der Fisch noch einmal kürzest gewendet – und fertig ist der feine Fisch. „Würde der Fisch zu heiß erhitzt, würden die Muskeln verkrampfen“, so Pilz. Ein Phänomen, was auch bei der Fleischzubereitung oft nicht genügend beachtet wird: „Da wird vielfach durch das zu heiße Braten der Effekt des wochenlangen Reifeprozesses, der das Fleisch weich gemacht hat, in wenigen Minuten konterkariert“.
Spannende Erkenntnisse, die Pilz noch ausführlicher in seinen meist ausgebuchten Kochkursen vermittelt. Wobei diese Kurse noch einen Langzeiteffekt haben: „Die Leute staunen, wie aufwendig scheinbar einfache Gerichte sind – und sind hinterher viel bewusstere Esser“.
Funktioneller Faktor FF: Fisch liefert in ideal verwertbarer Form die lebenswichtigen Proteine. Die Schärfe des Meerrettichs und der Kresse fördern die Speichelproduktion, das Essen wird leichter verdaut.
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Ein ungewöhnlicher Abschluss: Ein Sorbet von der rohen Rote Bete, gewürzt mit Estragon, Cassisessig, ein wenig Birkenzucker – und gekrönt von knackigen Erbsensprossen aus dem heimischen Gewächshaus. Das schmeckt himmlisch intensiv, ein Effekt, der durch kühlenden, Zunge jauchzenden Birkenzucker verstärkt wird – ein hinreißend leichtes Dessert.
Funktioneller Faktor FF: Mit der Zuckerrübe verwandt ist die Rote Bete, weshalb sie gekocht eine wahre Zuckerbombe ist. Aber hier ist sie ja roh verarbeitet, überdies mit dem Birkenzucker Xylitol gesüßt, der wohl keine dick machende Insulinausschüttung bewirkt.
Kleine, nicht ganz ernst gemeinte Apothekenkunde: In der linken Flasche waren Substanzen zur Wundheilung, aus den Schwefelverbindungen in der Mitte ließe sich auch abführendes Glaubersalz herstellen, aber zu wahrer Hochform läuft eine Genuss-Apotheke erst beim Roten Bordeaux ganz rechts auf. Wem diese Darreichungsform zu spartanisch ist: Es gibt auch eine Weinkarte.
Klein und fein ist diese Karte, klug zusammengestellt und kundigst erläutert von Annett Ronneberger, die umsichtig den Service leitet. Weil es mittags war, habe ich diesmal auf den Wein verzichtet – und die ausgezeichneten Biotees von „Mutter Erde“ aus dem nahen Steinen getrunken. Eine Gärtnerei, die praktisch alle Teekräuter selbst anbaut.
Würde ich abends hingehen, hätte ich drei klare Favoriten: Den bewährten 2011er Grauburgunder von Salwey aus dem Kaiserstuhl für 33 Euro die Flasche. Immer eine sichere Bank ist das Rheingau-Gut von Franz Künstler, etwa der Riesling Hochheimer Herrenberg für 35 Euro.
Beim Roten wäre der 2009er Spätburgunder Spätlese von Karlheinz Ruser aus Lörrach für 43 Euro meine Wahl. Ein kraftstrotzender Wein, der im Laufe des Abends immer besser wird. Spannend auch die Weine aus Italien, Frankreich und Spanien, wo mich das Weingut Maset del LLeo interessieren würde.
Keine Angst beim folgenden Anblick – – Raimar Pilz ist nicht zum Hoflieferanten des Dschungelcamps degeneriert. Die Dinger bewegen sich nicht, denn es handelt sich um Knollenziest, ein nach Artischocken schmeckendes Gemüse aus dem Fernen Osten:
Wobei die Germanen schon ein ähnliches Gemüse verputzten, den Sumpfziest, der sogar als Droge bei Herzkrankheiten genutzt wurde – und später in Apotheken verkauft wurde.
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Ein unbändiges Interesse an natürlichen und außergewöhnlichen Produkten hat Raimar Pilz. Ich freue mich schon darauf, wenn er in diesem Jahr in seinem Wohnhaus wieder einen Garten mit rund 60 Kräutern hat. Den will ich sehen, und ich will mit ihm auch im Sommer zu seinem Geflügelerzeuger ins Elsass, zum demeter-Fischweiher im benachbarten Wehr fahren. Auch will er mir den ökologischen Gemüsehof im nahen Hotzenwald und die Streuobstwiesen in der gegenüber liegenden Schweiz zeigen.
Besonders gespannt bin ich auf die Viehzüchter im Schweizerischen Fricktal, denn Raimar Pilz ist wohl mit der einzige deutsche Koch, der Fleisch aus diesem teuren Land kauft. Seine Erklärung: „Es ist hammergut, und ich habe viele Gäste aus der Schweiz, also will ich etwas zurückgeben“. Zum Abschluss unserer kleinen Exkursion wollen wir ein Schweizerisches Versuchsgut für biologischen Landbau besuchen, wo er den für Wein zuständigen Leiter kennt.
Leider etwas zu weit für einen Tagesausflug ist sein Fischlieferant aus der Bretagne. Dort bestellt er direkt bei einem Fischer – und die Ware ist nach nicht einmal zwei Tagen per Flugzeug am beschaulichen Hochrhein. Ein großartiger Service, den er auch seinen Gästen anbietet, die so zu frischestem Fisch kommen.
Genuss-Apotheke heißt das kulinarische Gesamtkunstwerk aus Restaurant, Kochkursen und Gewürzhandel. Nur, Apotheke weckt bei vielen leider auch negative Assoziationen. Ich habe das selbst leidvoll mit meinem Buch Schönkost erlebt, wo ich auch Genuss und Gesundheit vermählen wollte, mit überschaubarem wirtschaftlichem Erfolg.
Es ist wohl so, dass viele Menschen (und gerade die, die’s bräuchten) strikt zwischen Gesundheit und Genuss trennen, möglicherweise ein lutherisches Erbe. Denn der rüpelige Reformator setzte weniger auf den subtilen Genuss, sondern wollte seine Schäfchen am Ende der Mahlzeit furzend und rülpsend um den Tisch versammelt wissen.
Ein wenig ahnen diese diffusen Zusammenhänge auch die Wirtsleute, weshalb sie in der Genuss-Apotheke auch noch das Restaurant Freigeist ausrufen. Nur, ein Raum, der gleichzeitig Genuss-Apotheke und Freigeist ist, das kann nicht gutgehen, das verwirrt.
Meine Empfehlung: Stärker auf Freigeist setzen, das passt schließlich bestens zum unabhängigen Charakter von Raimar Pilz, der nicht nur ein großartiger Koch ist, sondern gerne auch mit dem Rennmotorrad die Welt erobert und das gewagte Hobby des Eiskletterns pflegt.
Aber das sind letztlich lösbare Marketing-Probleme. Wichtig ist, dass in Bad Säckingen ein zukunftsweisendes Konzept etabliert ist. Ein Konzept, das ich zu meiner Überraschung bereits zwei Mal in ähnlicher Form präsentiert habe: Einmal im Kaupers bei Mainz und in der Villa mit Sonnenhof in Rügen.
Auch dort gibt es diesen engen Kontakt zu nicht zu vielen Gästen (in der Kurstadt sind es maximal 20), gibt es ganz wenig Personal, sind die Kosten übersichtlich, was sich auf die Preise auswirkt: Rund 45 Euro hat das viergängige Menü gekostet, was abends natürlich etwas teurer, aber angesichts des Aufwands korrekt ist.
Verblüffend ehrlich die Antwort von Raimar Pilz auf meine Schlussfrage, warum er so viel Wert auf Gesundheit legt: „Ich koche deshalb gesund, weil ich selbst gerne lange leben will“.
von Hans Lauber
E-Mail: aktiv@lauber-methode.de
, Internet: www.lauber-methode.de
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