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Als Ottilie Fritsch als Kleinkind in den 1960er-Jahren an Diabetes erkrankte, dachten ihre Eltern und ihr Hausarzt, dass sie trotz Insulintherapie nur noch wenige Jahre zu leben habe. Doch sie ließ sich nicht entmutigen und kämpfte stets mit Optimismus und Ehrgeiz für ihre Ziele. Inzwischen lebt Ottilie Fritsch schon 56 Jahre mit Typ-1-Diabetes. Für ihr erfolgreiches Stoffwechselmanagement erhielt sie im Jahr 2022 die Mehnert-Medaille.
Name: Ottilie Fritsch
Alter: 63 Jahre
Wohnort: Freyung (Bayerischer Wald)
Beruf: Examinierte Altenpflegerin, Diabetesberaterin DDG
Diabetes seit: Typ 1 seit 1965
Hobbys: Enkeltochter, Singen, Nähen, Organisieren
Lebensmotto: Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.
Kontakt: otti.fritsch@t-online.de
Ottilie Fritsch: Ja, das kann ich. Ich war damals sechs Jahre alt. Meiner Oma ist aufgefallen, dass ich immer so viel Durst hatte und immer so müde war. Meine Mutter hat dann einen Termin beim Hausarzt gemacht. Der hat einen Teststreifen in meine Urinprobe gehalten. Beim Eintauchen verfärbte sich dieser sofort, und ich habe noch im Ohr, wie er zu meiner Mutter sagte: “Oh Gott! Die Ottilie ist zuckerkrank.” Meine Mama hat gleich begonnen zu weinen. Zu Hause hat man erstmal eine Wärmflasche auf meinen Schoß gelegt und mich zugedeckt. Am nächsten Montag musste ich ins Krankenhaus. Dort hörte ich, wie eine Nonne zu den anderen Patienten sagte, dass ich die Nacht wohl nicht überleben werde. Das war natürlich schon ein Schock, obwohl ich heute darüber lachen muss.
Ottilie Fritsch: Man musste einmal am Tag das Insulin Ultralente mit einer Glasspritze spritzen. Die wurde regelmäßig mit destilliertem Wasser auf dem Holzofen ausgekocht. Zum Essen gab es eigentlich immer das Gleiche:zum Frühstück ein Stück Brot, zu Mittag immer ein Fischfilet und dazu zwei kleine Kartoffeln und Endiviensalat. Abends gab es wieder ein Stückchen Brot und Gelbwurst. Wir haben uns damals im Krankenhaus abgeschaut, was es dort zu essen gab, und meine Mutter hat das dann gekocht. Schulungen gab es zu der Zeit in unserer Umgebung noch nicht. Der Blutzucker wurde nur alle sechs Wochen im Labor des Krankenhauses gemessen. Dazu musste noch Blut abgenommen werden. Meine Werte waren anfangs niemals unter 250 mg/dl (13,9 mmol/l; Anm. d. Red.), meistens über 350 mg/dl (19,4 mmol/l). Mir ist noch im Gedächtnis, dass ich als Kind nie ein Eis essen durfte. Ich habe mir dann einmal durch den Boden eines Joghurts ein Holzstöckchen gesteckt und es in die Gefriertruhe gelegt. So konnte ich auch einmal Eis am Stiel essen. Unterzuckerungen waren prima Gelegenheiten, mal etwas Süßes essen zu dürfen. Gehasst habe ich allerdings, wenn meine Mutter mir panikartig Säfte einflößte, die mir regelmäßig in die Ohren und in die Haare gelaufen sind, weil ich mich so gewehrt habe. Ich dachte eben auch in diesen Momenten, dass ich nichts Süßes zu mir nehmen darf. Noch mehr hasste ich aber, wenn sie sagte: “Kind, bei dir riecht man den Zucker heute aber wieder sehr stark!” Das machte mir große Angst. Es erinnerte mich an die gebetsartigen Vorwürfe des Hausarztes, dass man mir die Beine amputieren würde, meine Nieren kaputt gehen oder ich blind werden würde.
Ottilie Fritsch: Ich bin mit 12 Jahren erstmals ins Schwabinger Krankenhaus gekommen, auf meine eigene Initiative. Meine Schwester hatte von einem Arzt gehört, von dem man sagte: “Das ist der Diabetes-Papst in Deutschland!” Dort wollte ich unbedingt hin, aber ich wurde zunächst nicht überwiesen. Erst, als es mir noch schlechter ging – ich hatte ein paarmal richtig Unterzucker mit Notarzteinsätzen –, hat es mein Hausarzt mir doch erlaubt, nach München in Behandlung zu gehen. Dort habe ich von Prof. Dr. Hellmut Mehnert persönlich meine erste Schulung bekommen. Er war der erste Mensch, den ich getroffen habe, der etwas von Diabetes verstand. Ich war in unserem Dorf ja weit und breit die Einzige mit Diabetes.
Ottilie Fritsch: Ich habe früh geheiratet, mit 18 Jahren. Es hieß damals aber immer, dass ich keine Kinder bekommen darf. Ich bin dann trotzdem schwanger geworden. Beim ersten Mal hat es nicht funktioniert. Der Zucker war nicht richtig eingestellt, und ich habe das ungeborene Kind deshalb verloren. Ein halbes Jahr später bin ich mit der Hilfe von Dr. Barbara Kraus gezielt wieder schwanger geworden. Erst kurz vor der Schwangerschaft habe ich damit angefangen, meinen Blutzucker selbst zu Hause zu messen. Auch die Umstellung auf eine intensivierte Insulintherapie (ICT) hat mir viel gebracht. Ich habe dann 1983 in der Schwabinger Klinik einen Sohn bekommen. Inzwischen habe ich auch eine Enkeltochter.
Ottilie Fritsch: Ja, ich habe zunächst 1986 die Diabetes-Selbsthilfegruppen in unserer Gegend und in ganz Bayern mit aufgebaut. Die Ärzte haben mich zwar geschätzt, aber ich war natürlich trotzdem ein medizinischer Laie und eine ungelernte Kraft. Ich habe dann die Ausbildung zur Diabetesassistentin gemacht, damit mein Wort mehr Gewicht hat. Später bin ich beruflich aus dem Altenheim in eine diabetologische Schwerpunktpraxis gewechselt, und so war es sinnvoll, auch noch die Ausbildung zur Diabetesberaterin zu machen. Es gibt zwar mitunter Leute, die behaupten, ein Betroffener könne anderen Betroffenen nicht gut helfen, weil man zu emotional sei. Aber meine Erfahrung ist: Die Leute fühlen sich schon wohl, wenn sie spüren, dass ich weiß, wovon ich rede.
Ottilie Fritsch: Mir wurde als Kind immer gesagt: “Du kannst nicht schwanger werden. Du brauchst auch keinen Beruf zu erlernen, denn du lebst ja sowieso nicht lange.” Ich war zwar verängstigt und traurig über diese Aussagen, aber ich habe mir gedacht: “Ich zeig’s euch! Natürlich kann ich das! Ich will und muss es schaffen.” Mich hat das eher angespornt, und ich war immer überzeugt: “Als Diabetiker kann man alles!” Leute mit Diabetes sind oft viel kämpferischer als Menschen ohne Diabetes. Auch im Beruf sind sie oft ehrgeiziger. Früher wurde oft gefragt: “Schafft ein Diabetiker das überhaupt?” Darüber kann ich ja nur lachen! Natürlich schafft man das!
Ottilie Fritsch: Wenn die Diagnose gestellt wird, ist das auch für die Eltern, als würde eine Bombe einschlagen. Mutter und Vater können in dem Moment oftmals gar nicht klar denken, weil sofort das Kopfkino losgeht. Man erinnert sich sofort an alle Komplikationen, an amputierte Füße oder auch an Dialyse und an alles Negative, was man vielleicht schon mal in der Familie oder von Bekannten gehört hat. Eltern wissen oftmals nicht, wie es weitergehen soll. Auch sie müssen erstmal aufgefangen werden. Ihnen müssen erst einmal die Ängste genommen werden, und sie müssen wissen, dass ihr Kind auch mit Diabetes sehr gut alt werden kann. Eltern am ersten Tag sofort mit dem Berechnen von Kohlenhydrat- und Insulineinheiten zu überfordern, ist für meine Begriffe der falsche Weg. Auch sie sollten Zeit haben, den Schock zu überwinden, für ihr Kind da zu sein und dem medizinischen Personal erstmal zuzusehen. Wenn der erste Schreck überwunden ist, können sie sich besser darauf konzentrieren, den Umgang mit Diabetes zu erlernen. Wissen ist das beste Fundament für eine erfolgreiche Therapie. Diabetes ist letztlich eine Erkrankung, bei der man selbst viel tun kann. Das hat auch Professor Mehnert schon damals zu mir gesagt. Viele seiner Aussagen haben mich über Jahre begleitet, und sie haben immer noch ihre Gültigkeit. Es gibt natürlich auch mal Zeiten, in denen es nicht so gut läuft und in denen man genervt ist. Aber man sollte jeden neuen Tag wieder mit Hoffnung beginnen. Für mich persönlich ist außerdem der Glaube sehr wichtig. Er hilft mir in vielen Situationen.
Das Interview führte Thorsten Ferdinand
Erschienen in: Diabetes-Journal, 2023; 72 (1) Seite 34-36
5 Minuten
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