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Diabetes und Selbst-Mitgefühl
4 Minuten
Es ist mitten in der Nacht und morgen muss ich früh aufstehen. Es ist mitten in der Nacht und mein Blutzucker ist bei 335 mg/dl (18,6 mmol/l). Es ist mitten in der Nacht und ich frage mich, warum ich eigentlich noch Pizza esse – überhaupt. Besonders abends. Frage mich, warum ich nicht auf das Glas Rotwein verzichtet habe, wegen dessen ich jetzt Angst habe, in der Nacht dann doch zu unterzuckern, obwohl ich doch jetzt einen viel zu hohen Zuckerwert habe. Ich kenne mich, ich kenne meinen Diabetes. Ich weiß, wie es läuft. Und ich weiß, dass ich ziemlich blöd war, abends Pizza zu essen und Wein zu – STOPP.
STOPP, STOPP, STOPP
Nichts und niemand ist blöd. Besonders nicht ich. Nicht mal der Diabetes. Der ist einfach Diabetes, nicht mehr und nicht weniger. Mal gibt es hohe Zuckerwerte, mal gibt es niedrige Zuckerwerte. Mal gibt es Pizza, mal gibt es keine Pizza. So ist das (Diabetes-)Leben.

In solchen Situation finden sich vermutlich viele von uns ab und zu wieder. Schnell passiert es, in Selbstvorwürfen zu versinken, was wir hätten besser machen können. Vorwürfe darüber, was wir alles hätten nicht machen sollen, und trotzdem haben wir es gemacht und jetzt haben wir den Salat. Wobei – Salat führt bei mir selten zu Vorwürfen. Aber Spaß beiseite. Es geht schnell, sich in das Labyrinth aus Selbstvorwürfen zu stürzen, und je tiefer man sich reinbegibt, desto schwerer ist es, dort wieder rauszukommen.
Das Fiese? Vorwürfe tarnen sich nicht immer direkt als Vorwürfe. Bei mir kann es von genereller schlechter Laune wegen schwankender Zuckerwerte über die unbewusste Vermeidung bestimmter Aktivitäten, die ich eigentlich total gerne mache, bis hin zu direkten Selbstvorwürfen wie „Das war dumm, abends Pizza zu essen.“ reichen. Es ist ein bunter Blumenstrauß aus Selbstvorwürfen, die aber selten zu irgendetwas führen, außer dass ich mich super schlecht fühle. Meist bringen mich die Selbstvorwürfe auch dichter an einen Wutbolus ran – und der hilft nun wahrlich niemandem.
Selbstvorwürfe vs. Selbst-Mitgefühl
Um mich aus dem Labyrinth der Selbstvorwürfe zu erlösen, versuche ich, möglichst viel Mitgefühl für mich selbst und meinen Diabetes zu entwickeln. Das deutsche Wort Selbst-Mitgefühl klingt hakelig, während für mich das Wort self-compassion im Englischen schon direkt viel weicher klingt. Nicht zu verwechseln ist für mich Selbst-Mitgefühl mit Selbst-Mitleid, wobei diese Unterscheidung für andere vielleicht schon zu tief geht. Für mich jedoch besteht der Unterschied besonders in der Art, wie ich mit etwas Negativem umgehe – und beim Selbst-Mitgefühl steigere ich mich im Vergleich zu Selbst-Mitleid nicht in das Geschehene hinein, sondern akzeptiere es viel mehr und blicke bewusst nach vorne, auf eine Zeit, in der sich auch wieder positive Gefühle einstellen.
Klingt toll, aber wenn ich mir jetzt die Nacht um die Ohren haue, weil ich falsch gebolt habe, was meine Stimmung mies macht, weil mein Zuckerwert nicht runtergeht und wirklich alles blöd ist – was mache ich dann?
DURCHATMEN. TIEF DURCHATMEN.
Ich will hier wirklich nicht erzählen, dass es in meinem Leben keinen Wutbolus gibt oder dass ich auf einmal keine Pizza mehr verfluche. Was ich jedoch versuche zu beeinflussen, ist mein Umgang mit schwankenden Zuckerwerten, die ich eigentlich hätte vorher absehen können. Zu überlegen, ob die Menge Insulin jetzt richtig war für das Gegessene, muss ja nicht ausbleiben. Aber die Vorwürfe, die man sich bei Feststellen einer falschen Menge macht, können ausbleiben. Stattdessen hilft eine große Portion Akzeptanz.
Und wie genau übe ich mich in Selbst-Mitgefühl?
Am wichtigsten finde ich die Einsicht, dass wir alle nicht perfekt sind – und selbst, wenn wir es wären, wäre es unser Diabetes trotzdem nicht. Unsere Körper sind mit oder ohne Diabetes keine Maschinen und funktionieren nicht wie programmiert. Auch wenn uns das manches Diabetes-Lehrbuch mit zugehörigem Arzt vielleicht so vermitteln möchte. 🙂
Wenn ich akzeptiere, dass meine Werte, genauso wie andere Dinge, die mit mir und meinem Körper zu tun haben, schwanken können und ich die Kontrolle nie zu 100% habe, lebt es sich wesentlich leichter. Aber dieses Loslassen zu lernen, braucht Zeit – bei mir jedenfalls.

In Situationen, in denen ich merke, dass es mir schwerfällt, zu hohe oder zu niedrige Zuckerwerte, starke Schwankungen oder generelles Chaos zu akzeptieren, hilft mir Folgendes:
- hinsetzen und durchatmen,
- sachlich überlegen, wie viel Insulin noch wirksam im Körper ist oder wann ich das letzte Mal Kohlenhydrate gegessen habe,
- entsprechend dem aktiven Insulin oder verzehrten Kohlenhydraten handeln: essen oder nicht essen, spritzen oder nicht spritzen,
- selbstverständlich gehört auch besonders bei zu hohen Werten ein Katheter-/Insulin-Check dazu,
- Dinge passieren lassen, ohne mir später dafür Vorwürfe zu machen, sei es ein Wutbolus oder ein Glas Saft zu viel,
und dann ist das Thema für mich erledigt. Ich versuche, bis zur nächsten Benachrichtigung meines CGM-Systems die Gedanken an zu hohe Werte zu verscheuchen, und lenke mich mit einem Buch ab. Noch viel besser ist ein Spaziergang, da er bei mir die Insulinempfindlichkeit steigert. Wenn ich eine frustrierend lange „Hypo“ habe, lege ich mich mit meinem Lieblings-Hörbuch aufs Sofa.
Es wird wieder besser werden!
Es bringt nichts, sich den Kopf zu zerbrechen, warum es jetzt so ist, wie es ist, und auch, wenn jemand schuld ist, ist der Zucker nicht augenblicklich perfekt. Ich versuche, meine Gedanken darauf zu fokussieren, dass es auch wieder vorbeigeht. Und in jedem Moment meines Lebens kümmere ich mich so gut um meinen Diabetes, wie es in diesem Moment eben geht. Dies kann durchaus von einer zur anderen Sekunde schwanken und je nach Moment unterschiedlich sein. In jede Situation in meinem Leben bringe ich unterschiedliche mentale Ressourcen mit. Ein zu hoher oder zu niedriger Wert sagt nichts darüber aus, ob ich mich gut um meinen Diabetes kümmere.
Mich mit allen Höhen und Tiefen zu akzeptieren und nach vorne zu schauen, das ist für mich Selbst-Mitgefühl. Nicht nur, wenn es um Diabetes geht, aber es ist ein guter Start.
Über die verschiedenen Gefühle und Gedanken, die das Leben mit Diabetes in einem auslösen kann, hat auch Ina geschrieben: Diagnose Diabetes – „schlechte“ Gefühle erlaubt?
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sveastine postete ein Update in der Gruppe In der Gruppe:Diabetes und Psyche vor 5 Tagen, 10 Stunden
hallo, ich hab schon ewig Diabetes, hab damit 4 Kinder bekommen und war beruflich unterschiedlich unterwegs, in der Pflege und Pädagogik. Seit ein paar Jahren funktioniert nichts mehr so wie ich das möchte: die Einstellung des Diabetes, der eigentlich immer gut lief, Sport klappt nicht mehr….ich bin frustriert und traurig..so kenne ich das nicht.. Geht es jemanden ähnlich? Bin 53…Viele grüße. Astrid
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stephanie-haack postete ein Update vor 6 Tagen, 7 Stunden
Wir freuen uns auf das heutige virtuelle Community-MeetUp mit euch. Um 19 Uhr geht’s los! 🙂
Alle Infos hier: https://diabetes-anker.de/veranstaltung/virtuelles-diabetes-anker-community-meetup-im-november/
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lena-schmidt antwortete vor 6 Tagen, 6 Stunden
Ich bin dabei 🙂
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insulina postete ein Update in der Gruppe In der Gruppe:Reisen mit Diabetes vor 3 Wochen
Hallo Zusammen,
ich reise seit meinem 10. Lebensjahr mit Diabetesequipment…
Auf dem Segelboot mit meinen Eltern, auf Klassenfahrt in den Harz direkt nach meiner Diagnose 1984. Gerne war ich wandern, am liebsten an der Küste. Bretagne, Alentejo, Andalusien, Norwegen. Zum Leidwesen meiner Eltern dann auch mal ganz alleine durch Schottland… Seit einigen Jahren bin ich nun als Sozia mit meinem Mann auf dem Motorrad unterwegs. Neben Zelt und Kocher nimmt das Diabeteszeug (+weiterer Medis) einen Großteil unseres Gepäcks ein. Ich mag Sensor und Pumpe- aber das Reisen war „früher“ leichter. Im wahrsten Sinne es Wortes. Da eben nicht so viel Platz für Klamotten bleibt, bleiben wir (noch) gerne in wärmeren Regionen. Wo ist bei fast 40 Grad Sonnenschein der kühlste Platz an einem Motorrad? Und was veranstalten Katheter und Schlauch da schon wieder unter dem Nierengurt? Nach einem Starkregen knallgefüllte, aufgeplatzte Friotaschen auf den Motorradkoffern, bei den Reisevorbereitungen zurechtgeschnippelte Katheterverpackungen, damit einer mehr in die Tupperdose passt… Oft muss ich über so etwas lachen- und bin dankbar, dass mir noch nichts wirklich bedrohliches passiert ist.
Im September waren wir auf Sardinien und auf dem Rückweg länger in Südtirol. Ein letztes Mal mit meiner guten, alten Accu-Check Combo. Jetzt bin ich AID´lerin und die Katheter sind noch größer verpackt… 😉
Mein „Diabetesding“ in diesem Urlaub war eine sehr, sehr sehr große Sammlung von Zuckertütchen. Solche, die es in fast jedem Café gibt. Die waren überall an mir… in jeder Tasche, in der Pumpentache, überall ein- und zwischengeklemmt. Und liegen noch heute zahlreich im Küchenschrank. Nicht, weil sie so besonders hübsch sind und / oder eine Sammlereigenschaft befriedigen… Ich habe beim Packen zu Hause auf einen Teil der üblichen Traubenzuckerration verzichtet, da ich nach jedem Urlaub ausreichend davon wieder mit nach Hause schleppe.
Da wollte ich wohl dann bei jeder sich bietenden Gelegenheit sicherstellen, bei Unterzuckerungen trotzdem ausreichend „Stoff“ dabei zu haben…
Ich freue mich auf den nächsten Urlaub und bin gespannt, was für eine Marotte dann vielleicht entsteht. Und, ob ich vom AID wieder in den „Basalratenhandbetrieb“ schalte.
Die Marotte allerdings kündigt sich schon an. Da ich ja nun das Handy dringend benötige, habe ich bereits eine Sicherungsleine an Handy und Innentasche der Jacke befestigt. So kann ich das Handy zum Fotografieren oder für das Diabetesmanagement heraus nehmen -ohne dass es die Alpen hinunter- oder ins Wasser fällt. Diabetesbedingte Paranoia. 😉
Wenn ´s weiter nichts ist… .
Ich würde übrigens lieber ohne Erkrankungen reisen. Aber es hilft ja nichts… und mit Neugierde, Selbstverantwortung und ein bisschen Mut klappt es auch so.
Lieben Gruß und viel Vorfreude auf die nächsten Urlaube
Nina-
darktear antwortete vor 2 Wochen, 1 Tag
Hallo Nina,
als unser Kind noch kleiner war, fand ich es schon immer spannend für 2 Typ1 Dias alles zusammen zu packen,alles kam in eine große Klappbox.
Und dann stand man am Auto schaute in den Kofferraum und dachte sich oki wohin mit dem Zuckermonster,es war also Tetris spielen im Auto ;). Für die Fahrten packen wir uns genug Gummibärchen ein und der Rest wird zur Not dann vor Ort gehohlt.
Unsere letzte weite Fahrt war bis nach Venedig
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Liebe Astrid! Ich gerade 60 geworden und habe seit 30 Jahren Typ 1, aktuell mit Insulinpumpe und Sensor versorgt. Beim Diabetes läuft es dank des Loop gut, aber Psyche und Folgeerkrankung, Neuropathie des Darmes und fehlende Hypoerkennung, machen mir sehr zu schaffen. Bin jetzt als Ärztin schon berentet und versuche ebenfalls mein Leben wieder zu normalisieren. Kann gut verstehen, wie anstrengend es sein kann. Nicht aufgeben!! Liebe Grüße Heike
@mayhe: Hallo liebe Heike, danke für deine schnelle Antwort, das hat mich sehr gefreut. Nein aufgeben ist keine Option, aber es frustriert und kostet so viel Kraft. Ich hoffe dass ich beruflich noch einen passenden Platz finde. Und danke dass du dich gemeldet hast und von deiner Situation berichtet. Das ist ja auch nicht einfach. Und ich wünsche auch dir eine gewisse Stabilisierung…jetzt fühle ich mich mit dem ganzen nicht mehr so alleine. Was machst du denn sonst noch? Viele Grüße Astrid
Liebe Astrid! Ja, das Leben mit Diabetes ist echt anstrengend. Es kommt ja auf den normalen Wahnsinn noch oben drauf. Ich habe den Diabetes während der Facharztausbildung bekommen und ehrgeizig wie ich war auch damit beendet. Auch meinen Sohn, 26 Jahre, habe ich mit Diabetes bekommen. Hattest bei den Kindern auch schon Diabetes? Leider bin ich von Schicksalsschlägen dann nicht verschont geblieben. Was dann zu der heutigen Situation geführt hat. Ich habe durchgehalten bis nichts mehr ging. Jetzt backe ich ganz kleine Brötchen, freue mich wenn ich ganz normale kleine Dinge machen kann: Sport, Chor, Freunde treffen, usw. Ich würde mich zwar gerne aufgrund meiner Ausbildung mehr engagieren, dazu bin ich aber noch nicht fit genug. Was machst du so und wie alt sind deine Kinder? Bist du verheiratet? Liebe Grüße Heike