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Seit Bundesernährungsminister Cem Özdemir Ende Februar seinen Gesetzentwurf für die Beschränkung an Kinder gerichteter Werbung für ungesunde Lebensmittel vorgelegt hat, wird um das Für und Wider der Regelung gerungen. Alle Seiten sehen dabei “die Fakten” auf ihrer Seite.
Für die einen ist es ein Meilenstein, für die anderen die Diffamierung einer ganzen Branche. Der am 27. Februar vorgelegte Entwurf eines “Gesetzes zum Schutz von Kindern vor Werbung für Lebensmittel mit hohem Zucker-, Fett- oder Salzgehalt (Kinder-Lebensmittel-Werbegesetz – KWG)” spaltet entlang klarer Linien: Die Deutsche Allianz Nichtübertragbare Krankheiten (DANK) und Foodwatch loben den Gesetzentwurf, erfüllt er doch quasi alle Forderungen, die die Organisationen über lange Zeit engagiert erhoben haben. Die betroffene Industrie, von der Bundesvereinigung der Deutschen Ernährungsindustrie (BVE) über den Bundesverband der Deutschen Süßwarenindustrie bis zum Verband Privater Medien (VAUNET), kritisiert die geplanten Maßnahmen als rein symbolisch, nicht zielführend und gefährlich für die eigenen Unternehmen.
Bei den ersten Stellungnahmen der Interessenverbände ist es nicht geblieben. Die BVE startete, begleitet von einer Anzeigenkampagne in auflagen- und meinungsstarken Tageszeitungen, Ende März eine Website unter dem programmatischen Titel “lieber-mündig.de”. Den dort aufgeführten Argumenten gegen die von Özdemir geplanten Werbebeschränkungen begegnete DANK Anfang April mit einem Faktencheck. Und der wiederum wurde von der BVE mit einem Gegen-Faktencheck beantwortet. Wenn man wohlwollend ist, kann man sagen, dass hier zumindest keine Politik im Hinterzimmer gemacht wird, sondern ganz transparent zwei konträre Meinungen in den Wettstreit eingetreten sind – Ausgang offen.
Ein Argument der Lebensmittelindustrie ist, dass zu den vorgeschlagenen Maßnahmen keine Wirksamkeitsstudien vorliegen. “Es gibt zwar Untersuchungen, wonach sich das Kaufverhalten bestimmter Produkte durch Werbeverbote verschoben hat bzw. gesunken ist. Allerdings sagt das Kaufverhalten noch nichts über die Übergewichtsentwicklung aus, die als Zielgröße für die Maßnahme ‚Werberestriktionen‘ genannt wird. (…) Außerdem gibt es keine belastbaren wissenschaftlichen Untersuchungen zur Wirksamkeit der Werbebeschränkungen auf die Gesamternährung und die Entwicklung von kindlichem Übergewicht”, heißt es auf lieber-mündig.de. DANK nennt diese Argumentation irreführend, denn die Auswirkungen von Werberegulierungen auf das Kaufverhalten seien gut dokumentiert. Eine weltweite Studie, die die Junkfood-Verkaufszahlen aus 79 Staaten mit verbindlichen Werbebeschränkungen, freiwilligen Selbstverpflichtungen und ohne Werbebeschränkung vergleicht, zeige: In den 16 Ländern mit gesetzlichen Werbebeschränkungen war der Junkfood-Verkauf im Zeitraum 2002 bis 2016 um 8,9 Prozent gesunken, in den 30 Ländern ohne Werbebeschränkungen um 13,9 Prozent gestiegen, in Ländern mit freiwilligen Selbstverpflichtungen um 1,7 Prozent gestiegen. Dass noch keine belastbaren Untersuchungen der Auswirkung auf die Entwicklung von kindlichem Übergewicht existieren, sei nicht anders zu erwarten. Zum einen seien die einzigen ähnlich umfassenden gesetzlichen Regelungen in Chile und Portugal erst vor wenigen Jahren in Kraft getreten. Zum anderen seien belastbare epidemiologische Messungen zur Entwicklung des Gewichtsstatus bei Kindern und Jugendlichen sehr aufwendig und würden oft nur etwa zehnjährlich erhoben. Genau auf diesen Umstand bezog sich die BVE in ihrem Gegen-Faktencheck und konstatierte eine “schwache wissenschaftliche Evidenz”, es sei “politisch fragwürdig und nicht verhältnismäßig”, auf dieser Wissensbasis die geplanten Einschränkungen beschließen zu wollen.
Ein anderes Argument der Industrie ist, dass der Gesetzentwurf auf ein fast generelles Werbeverbot für Lebensmittel hinauslaufe, nicht etwa nur für “Junkfood”. In der Anzeigenkampagne der BVE ist plakativ von “Cem Özdemirs Verbotskatalog” die Rede, auf lieber-mündig.de abgebildet werden Lebensmittel, für die nicht mehr geworben werden dürfe. Im Faktencheck von DANK werden die genannten Lebensmittel im Detail analysiert, bei den meisten ist das Fazit, dass von einem kategorischen Werbeverbot keine Rede sein könne, sondern vielmehr die gemäß den WHO-Nährwertprofilen ungesunden Vertreter der Produktgruppe nicht mehr im für Kinder zugänglichen Umfeld beworben werden dürften, die gesundheitlich unbedenklichen dagegen schon. Özdemir hatte schon bei Vorstellung des Entwurfs herausgestellt: “Werbetreibende können auch weiterhin gegenüber Kindern für Lebensmittel werben, die keinen zu hohen Gehalt an Zucker, Fett oder Salz haben. Und genau dahin sollte der Trend gehen: Weniger ist mehr! Wir setzen auf die Bereitschaft der Lebensmittelwirtschaft, Rezepturen zu verbessern.” DANK gestand ein, dass zum Beispiel verarbeitetes Fleisch und Schinkenwurst oder Laugengebäck die WHO-Kriterien in der Regel nicht einhalten und vom Werbeverbot betroffen wären. Dies sei aber ernährungsphysiologisch gut begründbar und spreche für die Validität des Modells. In seiner Replik bezeichnete die BVE Abweichungen der Nährwerte einzelner Lebensmittel nach oben oder unten als selbstverständlich und “in der wunderbaren Lebensmittelvielfalt begründet, die wir hierzulande zu bieten haben”. Jeder Verbraucher könne anhand der Nährwerttabelle ablesen, wie viel Zucker, Salz und Fett genau in einem Produkt enthalten sind …
DANK kritisiert die Lieber-Mündig-Kampagne der BVE gegen eine Beschränkung der Lebensmittelwerbung als “irreführend auf allen Ebenen”. Die Ernährungsindustrie bediene sich eins zu eins der Strategien der Tabaklobby, so das Bündnis. “Mit ihrer Kampagne versucht die Ernährungsindustrie, das Problem zu verharmlosen, Zweifel an den Gegenmaßnahmen zu säen und Verantwortung auf andere abzulenken”, moniert DANK-Sprecherin Barbara Bitzer.
Marcus Sefrin
Erschienen in: Diabetes-Journal, 2023; 72 (6) Seite 50-51
5 Minuten
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