Eine Nacht im November

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Eine Nacht im November

Redaktionsmitglied Oliver Ebert ist bekannt für seine klaren Worte und scharfen Analysen sozialer und rechtlicher Sachverhalte. Passend zum Advent erzählt er uns dieses Mal eine Geschichte, die es bis zum letzten Satz in sich hat.

Liebe Leserinnen und Leser,

schon wieder ist ein Jahr vorbei, welches im Rückblick für Diabetiker leider einige unerfreuliche Änderungen gebracht hat. Neue Insuline und Medikamente mussten aus Kostengründen vom Markt genommen werden und sind für Kassenpatienten nicht mehr zugänglich. Das Bundessozialgericht hat noch nicht – wie von vielen erhofft – die kontinuierlichen Glukosemonitoringsysteme (CGM-Systeme) als Kassenleistung anerkannt, so dass nun auf eine entsprechende Empfehlung des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) gewartet werden muss.

Auch die Versorgung bröckelt, gerade in ländlichen Regionen gibt es immer weniger (Fach-)Ärzte; die Schließung von Krankenhäusern führt in weiten Landstrichen ebenfalls zu erheblichen Schwierigkeiten, insbesondere auch für ältere und wenig mobile Menschen. Insgesamt gibt es also durchaus Grund, um etwas zu jammern.


Vor diesem Hintergrund aber nun eine kleine Geschichte, die mich das ganze Jahr immer wieder in Gedanken verfolgt hat und ganz gut zur Adventszeit passt:

Es war im letzten November, der erste Schnee lag auf den Straßen, und ich war auf dem Weg zu einem dringenden Termin. Nach unzähligen Staus zwischenzeitlich ziemlich genervt, fuhr ich auf eine Autobahnraststätte, weil ich noch ein paar Akten durchlesen wollte.

Als ich zum Auto zurücklief, fiel mir ein ungepflegt wirkender Mann mittleren Alters – offensichtlich südosteuropäischer Abstammung – auf, der umherhinkte, alle möglichen Leute ansprach und jedem einen Zettel unter die Nase hielt. In der anderen Hand hielt er dabei eine wenig vertrauenerweckend aussehende Plastiktüte, deren Inhalt ich mir lieber nicht näher vorstellen wollte.

Ich beobachtete, wie er von allen abgewiesen wurde, teilweise fielen recht barsche Worte. Auch ich dachte mir meinen Teil, denn es ist hinlänglich bekannt, dass Fremde, die einen anquatschen und einem dabei zur Ablenkung komische Zettel vor die Nase halten, nicht immer Gutes im Schilde führen. Ich verdrückte mich also und hoffte, er möge mich in Ruhe lassen. Schon kam er geradewegs auf mich zu und zeigte mir gestikulierend seinen Zettel, auf dem ziemlich unleserlich eine Adresse gekritzelt war.

Er konnte kaum Deutsch, ich verstand nur, dass ich ihm helfen solle –wie alle anderen vor mir ging ich davon aus, dass er betteln oder mich gar beklauen wollte. Ich gab ihm zu verstehen, dass ich keine Zeit hätte. Er schaute mich traurig an und ging zu anderen, sich weitere Zurückweisungen abzuholen.

Nun: Mein schlechtes Gewissen trieb mich zu ihm.Ich fragte, was er denn wolle? Dabei versuchte ich, sein Äußeres und die seltsame Plastiktüte einfach zu ignorieren. Er war natürlich überrascht – und schilderte mir, dass er dringend ins Krankenhaus müsse, weil sein Knie kaputt sei. Die Adresse der Klinik sei auf dem Zettel, er sei LKW-Fahrer und wisse nicht, wie er dorthin kommen solle.

Genaueres Hinsehen zeigte mir sein schmerzverzerrtes Gesicht – er musste auch schon länger geweint haben. Er tat mir leid. Ich warf meine Pläne und ehrlich gesagt auch die Sorgen um das Duftklima im Auto über Bord und sagte ihm, dass ich ihn ein Stück mitnehmen könne. Er war überglücklich.

Im Auto brach er dann in Tränen aus und schilderte mir, dass er schon mehrere Stunden dagestanden und niemand ihm geholfen hätte. Er sei nachts beim Aussteigen aus dem LKW auf sein Knie gestürzt, und dabei sei eine alte Verletzung wieder aufgebrochen, die er nun dringend in der Klinik behandeln lassen müsse. Das Ganze habe vor drei Jahren begonnen, damals habe er das Knie in Frankreich verletzt.

An den Behandlungskosten von 20 000 Euro würde er immer noch abzahlen, weil er als selbständiger Brummifahrer damals keine Versicherung hatte. Er berichtete dann aber stolz, dass er sich seit einiger Zeit eine Versicherung leisten könne, die wenigstens jetzt die Behandlung bezahle und auch den Kliniktermin für ihn organisiert habe.

Dann erzählte er mir mit Händen und Füßen von seinem Leben, und ich erkannte, wie hart er wohl arbeitet, um seine Familie in Rumänien irgendwie über die Runden zu bringen, seinen Kindern eine Schulbildung zu ermöglichen. Zwischendurch ergoss er sich in Lobeshymnen über mein Auto und deutsche Autos allgemein; er war gleichermaßen ungläubig und voller Stolz, dass er in so einem Wagen mitfahren durfte.

Dabei sprühte er vor Begeisterung, zeigte aber keinerlei Neid: Für ihn ist das ein wahrscheinlich unerreichbarer Traum, für mich ein bloßer Gebrauchsgegenstand. Ich brachte ihn direkt zur Klinik, drückte ihm zum Abschied eine Tafel Schokolade und eine Flasche Wasser in die Hand. Es war mir peinlich und unangenehm, als er vor Dankbarkeit erneut in Tränen ausbrach. Und dann stammelte er noch, dass er Diabetes habe und daher keine Schokolade essen dürfe …


Liebe Leserinnen und Leser, ich werde die Situation nie vergessen. Wie schnell man sich doch von Vorurteilen leiten lässt und wie schnell man vergisst, dass Dinge wie Krankenversorgung, Schulbildung und soziale Absicherung für die meisten Menschen auf dieser Welt alles andere als selbstverständlich sind. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen eine besinnliche Adventszeit, frohe Festtage und einen guten Rutsch ins neue Jahr.


von Oliver Ebert
REK Rechtsanwälte
Nägelestraße 6A, 70597 Stuttgart
E-Mail: Sekretariat@rek.de

Internet: www.diabetes-und-recht.de

Erschienen in: Diabetes-Journal, 2015; 64 (12) Seite 64-65

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  • Hallo Zusammen,
    ich reise seit meinem 10. Lebensjahr mit Diabetesequipment…
    Auf dem Segelboot mit meinen Eltern, auf Klassenfahrt in den Harz direkt nach meiner Diagnose 1984. Gerne war ich wandern, am liebsten an der Küste. Bretagne, Alentejo, Andalusien, Norwegen. Zum Leidwesen meiner Eltern dann auch mal ganz alleine durch Schottland… Seit einigen Jahren bin ich nun als Sozia mit meinem Mann auf dem Motorrad unterwegs. Neben Zelt und Kocher nimmt das Diabeteszeug (+weiterer Medis) einen Großteil unseres Gepäcks ein. Ich mag Sensor und Pumpe- aber das Reisen war „früher“ leichter. Im wahrsten Sinne es Wortes. Da eben nicht so viel Platz für Klamotten bleibt, bleiben wir (noch) gerne in wärmeren Regionen. Wo ist bei fast 40 Grad Sonnenschein der kühlste Platz an einem Motorrad? Und was veranstalten Katheter und Schlauch da schon wieder unter dem Nierengurt? Nach einem Starkregen knallgefüllte, aufgeplatzte Friotaschen auf den Motorradkoffern, bei den Reisevorbereitungen zurechtgeschnippelte Katheterverpackungen, damit einer mehr in die Tupperdose passt… Oft muss ich über so etwas lachen- und bin dankbar, dass mir noch nichts wirklich bedrohliches passiert ist.
    Im September waren wir auf Sardinien und auf dem Rückweg länger in Südtirol. Ein letztes Mal mit meiner guten, alten Accu-Check Combo. Jetzt bin ich AID´lerin und die Katheter sind noch größer verpackt… 😉
    Mein „Diabetesding“ in diesem Urlaub war eine sehr, sehr sehr große Sammlung von Zuckertütchen. Solche, die es in fast jedem Café gibt. Die waren überall an mir… in jeder Tasche, in der Pumpentache, überall ein- und zwischengeklemmt. Und liegen noch heute zahlreich im Küchenschrank. Nicht, weil sie so besonders hübsch sind und / oder eine Sammlereigenschaft befriedigen… Ich habe beim Packen zu Hause auf einen Teil der üblichen Traubenzuckerration verzichtet, da ich nach jedem Urlaub ausreichend davon wieder mit nach Hause schleppe.
    Da wollte ich wohl dann bei jeder sich bietenden Gelegenheit sicherstellen, bei Unterzuckerungen trotzdem ausreichend „Stoff“ dabei zu haben…
    Ich freue mich auf den nächsten Urlaub und bin gespannt, was für eine Marotte dann vielleicht entsteht. Und, ob ich vom AID wieder in den „Basalratenhandbetrieb“ schalte.
    Die Marotte allerdings kündigt sich schon an. Da ich ja nun das Handy dringend benötige, habe ich bereits eine Sicherungsleine an Handy und Innentasche der Jacke befestigt. So kann ich das Handy zum Fotografieren oder für das Diabetesmanagement heraus nehmen -ohne dass es die Alpen hinunter- oder ins Wasser fällt. Diabetesbedingte Paranoia. 😉
    Wenn ´s weiter nichts ist… .
    Ich würde übrigens lieber ohne Erkrankungen reisen. Aber es hilft ja nichts… und mit Neugierde, Selbstverantwortung und ein bisschen Mut klappt es auch so.
    Lieben Gruß und viel Vorfreude auf die nächsten Urlaube
    Nina

    • darktear antwortete vor 1 Woche

      Hallo Nina,

      als unser Kind noch kleiner war, fand ich es schon immer spannend für 2 Typ1 Dias alles zusammen zu packen,alles kam in eine große Klappbox.
      Und dann stand man am Auto schaute in den Kofferraum und dachte sich oki wohin mit dem Zuckermonster,es war also Tetris spielen im Auto ;). Für die Fahrten packen wir uns genug Gummibärchen ein und der Rest wird zur Not dann vor Ort gehohlt.
      Unsere letzte weite Fahrt war bis nach Venedig

  • gingergirl postete ein Update vor 3 Wochen

    Hallo zusammen meine name ist chiara und ich bin seit knapp 3 monaten mit der diagnose diabetes typ 1 diagnostiziert. Eigentlich habe ich es recht gut im griff nach der diagnose die zweite woche waren meine werte schon im ehner normalen bereich und die ärzte waren beeindruckt das es so schnell ging da ich aber alles durch die ernährung verändert habe und strickt mich daran halte war es einfach und man sah es sofort.
    Ich habe ein paar Fragen kann man überall am oberarm den sensor ansetzten( da ich ihn jetzt eher etwas hoch habe beim muskel) und muss man jeden dexcom g7 sensor kalibrieren am anfang beim wechseln? .
    Und ich habe bei den overpatch pflastern immer so viel kleberesten am arm kann das am pflaster liegen? Weil es ist ein transparentes und ich habe das gefühl es kriegt wie keine luft… Ich hab mir jetzt nur mal neue pflaster bestellt aber bei einem ist kein loch wo der dexcom ein löchli hat
    Und wie ist das bei euch wegen abnehmen funktioniert das oder nicht?
    Und wie spritzt ihr wenn ihr ihn der Öffentlichkeit seit an einem fest /Messe oder so?
    Da ich nicht immer auf die Toilette renne kann?
    Danke schonmal im Voraus

    Uploaded Image
    • Hallo,

      Als ich noch die ICT Methode hatte habe ich bei Konzerten oder Messen mir das Kurzzeitinsulin in den Bauch gespritzt und das Langzeit oben am Gesäß.Hat meist keiner mitbekommen.
      Meinen Sensor setzte ich oben am Arm,ist für mich angenehmer 🙂
      Ich bin froh das die Technik so gut ist und nicht mehr so Steinzeitmäßig wie vor 42 Jahren *lach*

      LG Sndra

    • moira antwortete vor 2 Wochen

      Hallo Chiara! Mit dem Spritzen habe ich es wie Sandra gemacht. Abnehmen ist echt schwierig – ich komme da nicht gut weiter, ich muss aber auch für zwei weitere Leute kochen und deren Essenswünsche sind da nicht unbedingt hilfreich. LG

  • hexle postete ein Update vor 3 Wochen, 2 Tagen

    Hat jemand Tipps bei einer Pfalsterallergie gegen dexcom g6. Ich muss die vorhandenen Sensoren noch verwenden, bis die Umstellung auf g7 durch ist.

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