Die Diabetiker Niedersachsen unterwegs: Auch in diesem Jahr besuchten der Landesvorstand und unsere Selbsthilfe-Gruppen die Meilensteine der modernen Diabetologie in Berlin. An einem verregneten Sonntag lauschten wir diversen Vorträgen und kamen ins Gespräch.
diabetesDe und seine Partner hatten gerufen und wir kamen. Bereits zum dritten Mal fanden die Meilensteine der Modernen Diabetologie im Berliner Hotel Maritim proArte statt. Diesmal stand laut Ankündigung das Jubiläum „40 Jahre erster Insulinpen“ im Mittelpunkt. Im Programm selbst spiegelte sich das Thema allerdings kaum wider. Einzige Ausnahme: Leistungssportlerin, Bundesverdienstkreuzträgerin und Buchautorin Ulrike Thurm sprach über moderne Smartpens.
Adipositas im Mittelpunkt
Deutlich gewichtiger besetzt war hingegen das Thema Adipositas. Vier Programmpunkte widmeten sich Übergewicht, Ernährung und den Begleiterscheinungen. Zwei medizinische Vorträge stachen besonders hervor und lieferten spannende Einblicke. Dr. Pia Roser betonte in ihrem Vortrag „Zwischen Wunsch und Wirklichkeit – so geht Abnehmen heute“, dass sogenannte Inkretinagonisten – besser bekannt als „Abnehmspritzen“ – kein Lifestyle-Produkt seien. Sie sollten nur bei schwerer Adipositas eingesetzt werden und nur dann, wenn die Patienten sie gut vertragen. Ein klares Statement aus der Praxis, das dem gesellschaftlichen Trend zum bequemen Abnehmen mit Spritze entgegensteht.
In eine ähnliche Kerbe schlug Internist und Diabeteologe Dr. Ralf-Uwe Häußler. Sein unterhaltsamer und anschaulicher Vortrag machte deutlich: Wer Diabetes bei bestehendem Prädiabetes verhindern möchte, muss auf eine Mischung aus Bewegung, angepasster Kalorienzufuhr und langfristiger Lebensstiländerung setzen. Eine universelle Lösung gebe es laut Häußler nicht, aber laut Studien sei in ca. 60 Prozent der Fälle die Manifestation eines Diabetes Typ 2 noch zu verhindern oder zumindest bis ins hohe Alter aufzuschieben. Ganz ohne Medikamente.


Bunte Messe
Auf der begleitenden kleinen Produkt- und Informations-Messe drehte sich ebenfalls viel rund um Ernährung und Nährstoffaufnahme. Heide Slawitschek-Mulle, Bundesverdienstkreuz-Trägerin, Diplom-Oecotrophologin und Leiterin mehrerer unserer Selbsthilfegruppen im Schaumburger Land, nahm sich den Drink „SugrSugr“ vor – speziell entwickelt für schnelle Energie bei sinkendem Blutzuckerspiegel. Ihr Fazit: „Das mag ja funktionieren, aber ganz schön viel Chemie.“
Natürlich präsentierten auch zahlreiche Hilfsmittelhersteller ihre Produkte an interaktiven Messeständen und auch die Pharmaindustrie war vertreten. Natürlich ohne Produktwerbung, dafür mit „Patient Engagement“-Themen wie Diabetes-Früherkennung oder Adipositas-Aufklärung.


Generische Grußworte
Ein weiteres großes Thema an diesem verregneten Berliner Sonntag war der Umgang der Politik mit Menschen mit Diabetes. Bundesgesundheitsministerin Nina Warken sagte ihre Teilnahme erwartungsgemäß ab, schickte jedoch ein Grußwort per Videobotschaft. Darin bezeichnete sie die Veranstaltung als „Patiententag anlässlich des Weltdiabetestages“ – eine recht generische Formulierung für eine Veranstaltungsreihe, die nun seit drei Jahren unter dem gleichen Titel läuft und zumindest den Eindruck eines eher geringen Interesses am eigentlichen Gegenstand des Grußes erweckt. Indirekt griff Dr. Jens Kröger diesen Punkt auf, als er in seinen einleitenden Worten betonte, dass der Begriff „Diabetes“ im Koalitionsvertrag der aktuellen Bundesregierung inzwischen gar nicht mehr auftauche.
Dauerbrenner Früherkennung
Die von Ministerin Warken in ihrem Vortrag mehrfach gepriesene Früherkennung von Diabetes Typ 1 bei Kindern und das Screening auf eine Veranlagung für die Autoimmunerkrankung waren im Vortragsangebot ebenfalls prominent platziert. Dr. Felix Reschke vom Kinder- und Jugendkrankenhaus auf der Bult berichtete erkennbar euphorisch aus seiner Praxis als Kinder-Diabetologe. Der junge Arzt positionierte sich in seinem Vortrag eindeutig für ausgeweitete Screenings und stellte an Fallbeispielen dar, warum es aus seiner Sicht wichtig sei, mit rechtzeitiger Früherkennung ketoazidotische Komata zu verhindern.
Reschke ließ Gegenargumente und Bedenken aber nicht unter den Tisch fallen. Insbesondere die Unzuverlässigkeit des Screenings und dessen psychologische Komponente spielte er nicht herunter. Etwas zu kurz kam aus unserer Sicht allerdings die Förderung des Erkennens der typischen T1D-Symptome durch Kinderärzte. Hier liegt nämlich ein viel häufigerer Grund für Ketoazidosen: Symptome werden nicht erkannt oder nicht ernstgenommen und Eltern wieder nach Hause geschickt. Dafür braucht es gar keine Antikörper-Tests oder Veranlagungsscreenings, sonder einfach nur besser geschulte Kinderärzte. Besonders Familien, in denen ein Diabetes Typ 1 bisher kein Thema war, würden profitieren.


Stigmatisierung durch Marginalisierung
In der abschließenden Talkrunde zur Stigmatisierung von Menschen mit Diabetes unter Leitung von Dr. Kröger schloss sich zum Ende hin dann auch ein Kreis, als Norbert Kuster, Vorsitzender der Deutschen Diabetes-Hilfe Nordrhein-Westfalen in seinem Abschlussstatement betonte, dass Probleme mit Stigmatisierung auch daherkämen, dass die Politik Diabetes nicht auf der Agenda habe. Wenig Menschen wüssten wirklich, wie die verschiedenen Typen Diabetes sich unterschieden und welche Ursachen die Erkrankung haben könnte. Als von einem LADA Betroffener könne er davon ein Lied singen. Kuster wortwörtlich: „Die Politik nimmt Diabetes überhaupt nicht ernst!“
Unser Fazit
Norbert Kusters Schlussworte bestätigten sich bereits beim einleitenden Grußwort der Bundesgesundheitsministerin: Der Name der Veranstaltungsreihe schien ihr nicht geläufig und die angesprochenen Themen beschränkten sich in der Hauptsache auf Früherkennung und Adipositas – derzeit ja auch zwei Lieblingskinder auf Veranstaltungen in der Diabeteswelt. Wir hätten uns insgesamt mehr Diversität bei den Vortragsthemen und mehr Beiträge zum ursprünglich angekündigten Leitthema der Veranstaltung – das Jubiläum des Insulinpens – gewünscht. Die Entwicklung besserer Insuline scheint derzeit nicht lukrativ und gerade im Zusammenhang mit Insulinpens, die Millionen von Betroffenen die Therapie grundlegend erleichtert haben, wären Beiträge zu dem für viele Menschen mit Diabetes lebenswichtigen Hormon doch mehr als passend gewesen. Wir hoffen künftig auf mehr Konsistenz und Diversität in der Themenwahl.
