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Warum ich manchmal Dinge tue, die ich eigentlich nicht tun sollte
4 Minuten
[Dieser Beitrag enthält unbeauftragte Marken- und Produktnennung.]
Der Wecker klingelt, ich stehe auf, schlüpfe noch im Halbschlaf in meine Laufklamotten und begebe mich auf meine 30-minütige Tour durch das gerade erwachende Land. Zurück zu Hause geht es unter die Dusche, danach fertig machen für die Arbeit. Meine Arbeitstage laufen immer strukturiert ab und gleichzeitig so facettenreich: Meetings, Pitch schreiben, Brainstorming, Messen, Vorträge, Kundenbesuche, neue Strategien entwickeln, dazwischen messen, bolen und essen. Wieder 1-2 Überstunden auf das Konto gearbeitet. Feierabend. Das heißt wahlweise zum Sport ins Fitnessstudio, Arzttermine, Einkaufen, vielleicht auch alles zusammen.

Ich merke schon den Tag in meinen Knochen, wenn ich nach Hause komme. Dann heißt es Essen machen – aber bitte ausgewogen und immer schön berechnen, testen, bolen. Der Haushalt macht sich auch nicht von allein, das schaffe ich schon noch. Ab ins Bett, hoffen, dass man schlafen kann und den morgigen Ablauf wieder meistert.
Ja, ich habe einen stressigen und arbeitsaufwendigen Job. Mein Alltag wird darumgebastelt, alles getimt, alles in Zeit bemessen. Da bin ich nicht die Einzige. Ich möchte beruflich erfolgreich sein und weiß, dass dies ein gewisses Pensum von mir verlangt.
Der tägliche Begleiter, der Diabetes
Dann ist da aber auch noch mein täglicher Begleiter, der in mir wohnt und mir meinen super strukturierten Tag sowie meinen ganzen Ablauf durcheinanderbringen kann. Der Diabetes. Bei Stress reagiert mein Diabetes immer sehr sensibel. Bin ich gestresst, aber in einem beruflichen Umfeld, das mich beobachtet, zum Beispiel in einem Meeting, und ich das alles beiseiteschieben muss, wandert der Wert langsam, aber sehr stetig nach unten. Bin ich jedoch an einem Punkt, wo sich mein Stress in einen gewissen Ärger verwandelt hat und jetzt lautstark den Weg aus mir herausfindet, schnellen die Werte gen 400 mg/dl (22,2 mmol/l). Ich habe es mittlerweile einigermaßen unter Kontrolle, aber auch das muss ich in meinen Tagesablauf mit einplanen. Das Testen und Bolen ist dank Omnipod und Dexcom G6 leichter geworden, keine Frage. Aber manchmal ist mir diese Minute einfach zu lang.
Wir wissen alle, dass die Krankheit einen gewissen Kontrollzwang mit sich bringt. Wir können nicht sagen: „Ach, heute fühle ich mich nicht so nach Diabetes, das lasse ich heute mal!“ Wir stehen ständig unter dem Druck, dafür zu sorgen, dass wir leben. Natürlich ist das nicht unser ständiger Gedanke. Wir stellen uns nicht vor mit den Worten: „Hallo, ich bin die Mine und ich springe jeden Tag, dank meines Zutuns, dem Tod von der Schippe!“ Aber in unserem Unterbewusstsein ist genau dieser Fakt völlig präsent. Das ist den meisten, die von meinem Diabetes wissen, gar nicht bewusst. Das ist auch völlig in Ordnung, denn mir ist viel wichtiger, dass ich mehr bin als mein Diabetes.
Die Mini-Cheat-Momente
Es gibt da aber eine kleine Lücke bei meinem super durchstrukturierten Leben. Druck erzeugt Gegendruck. Und dieser gewinnt unweigerlich. Der Gegendruck erwischt mich selten an einem Montag. Aber Freitage fühlen sich schon fast an, als wären sie für den Gegendruck gemacht. Das sind sozusagen die auserwählten Momente. Die Tage, an denen die Erschöpfung vom ewigen Wettlauf gegen mich selbst schon sehr zu spüren ist. Dann passiert es, dass das Mittagessen ohne Testen und Bolen verputzt wird und ich das Erste nach einer Stunde mit Korrekturfaktor wieder in die richtige Bahn leite. Mein Ernährungstagebuch lasse ich dann auch mal gerne links liegen. So entstehen Lücken in der Aufzeichnung und Spitzen in der Kurve.
Es sind Mini-Cheat-Momente, gegen die Strukturen und Regeln. Es fühlt sich fast an, als würde mein inneres Kind gegen die Wände seines Zimmers klopfen, um zu rebellieren. Es ist ganz klar – ich tue Dinge, die ich eigentlich nicht tun sollte. Vor allem, weil sie sich zu 90% auf meinen Diabetes beziehen und ich direkt meinem eigenen Leben schade, ja, es vielleicht sogar ein wenig aufs Spiel setze. Es wäre mit weniger Tragweite versehen, wenn ich eine Deadline um 10 Minuten verpasse oder mal zu spät im Büro erscheine.

Der Feind, der Diabetes
Der große Unterschied ist: Meine berufliche Karriere habe ich mir selbst aufgebaut und vor allem ausgesucht, den Diabetes mit Sicherheit nicht. Er war von Tag eins mein „Feind“, etwas, was mich noch mehr von anderen entfremdet und, noch viel schlimmer: der mir die Freiheit raubte. Mein Drang nach Freiheit, egal in welchem Lebensbereich, war immer schon unbeschreiblich groß. So groß, dass ich alles eng und strukturiert halten muss, um mir Freiheiten nur in kleinen Dosen zu halten. Um nicht zu übertreiben und loszufliegen.
Den Diabetes sehe ich nicht mehr als meinen Feind an, er gehört zu mir und wenn wir es realistisch sehen, wird sich daran auch niemals etwas ändern. Deshalb geht es bei meinen „Ausrutschern“ auch nicht darum, in welchen Bereichen meines Lebens die Tragweite geringer wäre. Es geht viel mehr um eine Pause – so verrückt es sich anhört – eine Pause von meinem Leben. Es kostet unheimlich viel Kraft, jeden Augenblick seines Lebens auf dem Drahtseil zu balancieren, jeden Tag auf die andere Seite und zurück zu tänzeln. Ist es da nicht verständlich, dass man sich manchmal ein Seil mitnimmt und sich für einen Moment an das Drahtseil bindet, um einfach dazuhängen und durchzuatmen?! Nur einen Moment Stille, absolute Ruhe.
Mittlerweile finde ich: JA, ich darf das! Ich bin überzeugt davon, dass es menschlich ist, Dinge zu tun, die man eigentlich nicht tun sollte. Unter der Bedingung, dass man sich aus dieser wundervollen Stille auch wieder selbst in die Realität katapultieren kann.
Auch Janne hat über die Belastung vom Diabetes im Alltag geschrieben: Steht uns der Diabetes im Weg?
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sveastine postete ein Update in der Gruppe In der Gruppe:Diabetes und Psyche vor 5 Tagen, 6 Stunden
hallo, ich hab schon ewig Diabetes, hab damit 4 Kinder bekommen und war beruflich unterschiedlich unterwegs, in der Pflege und Pädagogik. Seit ein paar Jahren funktioniert nichts mehr so wie ich das möchte: die Einstellung des Diabetes, der eigentlich immer gut lief, Sport klappt nicht mehr….ich bin frustriert und traurig..so kenne ich das nicht.. Geht es jemanden ähnlich? Bin 53…Viele grüße. Astrid
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stephanie-haack postete ein Update vor 6 Tagen, 3 Stunden
Wir freuen uns auf das heutige virtuelle Community-MeetUp mit euch. Um 19 Uhr geht’s los! 🙂
Alle Infos hier: https://diabetes-anker.de/veranstaltung/virtuelles-diabetes-anker-community-meetup-im-november/
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lena-schmidt antwortete vor 6 Tagen, 2 Stunden
Ich bin dabei 🙂
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insulina postete ein Update in der Gruppe In der Gruppe:Reisen mit Diabetes vor 3 Wochen
Hallo Zusammen,
ich reise seit meinem 10. Lebensjahr mit Diabetesequipment…
Auf dem Segelboot mit meinen Eltern, auf Klassenfahrt in den Harz direkt nach meiner Diagnose 1984. Gerne war ich wandern, am liebsten an der Küste. Bretagne, Alentejo, Andalusien, Norwegen. Zum Leidwesen meiner Eltern dann auch mal ganz alleine durch Schottland… Seit einigen Jahren bin ich nun als Sozia mit meinem Mann auf dem Motorrad unterwegs. Neben Zelt und Kocher nimmt das Diabeteszeug (+weiterer Medis) einen Großteil unseres Gepäcks ein. Ich mag Sensor und Pumpe- aber das Reisen war „früher“ leichter. Im wahrsten Sinne es Wortes. Da eben nicht so viel Platz für Klamotten bleibt, bleiben wir (noch) gerne in wärmeren Regionen. Wo ist bei fast 40 Grad Sonnenschein der kühlste Platz an einem Motorrad? Und was veranstalten Katheter und Schlauch da schon wieder unter dem Nierengurt? Nach einem Starkregen knallgefüllte, aufgeplatzte Friotaschen auf den Motorradkoffern, bei den Reisevorbereitungen zurechtgeschnippelte Katheterverpackungen, damit einer mehr in die Tupperdose passt… Oft muss ich über so etwas lachen- und bin dankbar, dass mir noch nichts wirklich bedrohliches passiert ist.
Im September waren wir auf Sardinien und auf dem Rückweg länger in Südtirol. Ein letztes Mal mit meiner guten, alten Accu-Check Combo. Jetzt bin ich AID´lerin und die Katheter sind noch größer verpackt… 😉
Mein „Diabetesding“ in diesem Urlaub war eine sehr, sehr sehr große Sammlung von Zuckertütchen. Solche, die es in fast jedem Café gibt. Die waren überall an mir… in jeder Tasche, in der Pumpentache, überall ein- und zwischengeklemmt. Und liegen noch heute zahlreich im Küchenschrank. Nicht, weil sie so besonders hübsch sind und / oder eine Sammlereigenschaft befriedigen… Ich habe beim Packen zu Hause auf einen Teil der üblichen Traubenzuckerration verzichtet, da ich nach jedem Urlaub ausreichend davon wieder mit nach Hause schleppe.
Da wollte ich wohl dann bei jeder sich bietenden Gelegenheit sicherstellen, bei Unterzuckerungen trotzdem ausreichend „Stoff“ dabei zu haben…
Ich freue mich auf den nächsten Urlaub und bin gespannt, was für eine Marotte dann vielleicht entsteht. Und, ob ich vom AID wieder in den „Basalratenhandbetrieb“ schalte.
Die Marotte allerdings kündigt sich schon an. Da ich ja nun das Handy dringend benötige, habe ich bereits eine Sicherungsleine an Handy und Innentasche der Jacke befestigt. So kann ich das Handy zum Fotografieren oder für das Diabetesmanagement heraus nehmen -ohne dass es die Alpen hinunter- oder ins Wasser fällt. Diabetesbedingte Paranoia. 😉
Wenn ´s weiter nichts ist… .
Ich würde übrigens lieber ohne Erkrankungen reisen. Aber es hilft ja nichts… und mit Neugierde, Selbstverantwortung und ein bisschen Mut klappt es auch so.
Lieben Gruß und viel Vorfreude auf die nächsten Urlaube
Nina-
darktear antwortete vor 2 Wochen, 1 Tag
Hallo Nina,
als unser Kind noch kleiner war, fand ich es schon immer spannend für 2 Typ1 Dias alles zusammen zu packen,alles kam in eine große Klappbox.
Und dann stand man am Auto schaute in den Kofferraum und dachte sich oki wohin mit dem Zuckermonster,es war also Tetris spielen im Auto ;). Für die Fahrten packen wir uns genug Gummibärchen ein und der Rest wird zur Not dann vor Ort gehohlt.
Unsere letzte weite Fahrt war bis nach Venedig
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Liebe Astrid! Ich gerade 60 geworden und habe seit 30 Jahren Typ 1, aktuell mit Insulinpumpe und Sensor versorgt. Beim Diabetes läuft es dank des Loop gut, aber Psyche und Folgeerkrankung, Neuropathie des Darmes und fehlende Hypoerkennung, machen mir sehr zu schaffen. Bin jetzt als Ärztin schon berentet und versuche ebenfalls mein Leben wieder zu normalisieren. Kann gut verstehen, wie anstrengend es sein kann. Nicht aufgeben!! Liebe Grüße Heike
@mayhe: Hallo liebe Heike, danke für deine schnelle Antwort, das hat mich sehr gefreut. Nein aufgeben ist keine Option, aber es frustriert und kostet so viel Kraft. Ich hoffe dass ich beruflich noch einen passenden Platz finde. Und danke dass du dich gemeldet hast und von deiner Situation berichtet. Das ist ja auch nicht einfach. Und ich wünsche auch dir eine gewisse Stabilisierung…jetzt fühle ich mich mit dem ganzen nicht mehr so alleine. Was machst du denn sonst noch? Viele Grüße Astrid
Liebe Astrid! Ja, das Leben mit Diabetes ist echt anstrengend. Es kommt ja auf den normalen Wahnsinn noch oben drauf. Ich habe den Diabetes während der Facharztausbildung bekommen und ehrgeizig wie ich war auch damit beendet. Auch meinen Sohn, 26 Jahre, habe ich mit Diabetes bekommen. Hattest bei den Kindern auch schon Diabetes? Leider bin ich von Schicksalsschlägen dann nicht verschont geblieben. Was dann zu der heutigen Situation geführt hat. Ich habe durchgehalten bis nichts mehr ging. Jetzt backe ich ganz kleine Brötchen, freue mich wenn ich ganz normale kleine Dinge machen kann: Sport, Chor, Freunde treffen, usw. Ich würde mich zwar gerne aufgrund meiner Ausbildung mehr engagieren, dazu bin ich aber noch nicht fit genug. Was machst du so und wie alt sind deine Kinder? Bist du verheiratet? Liebe Grüße Heike