5 Minuten
Der 15. DIAlog und Hudas niemals endende Neigung zur Dramatik – das schreit förmlich nach einer Reflektion ihrer Diabetesreise. Aber diesmal ist tatsächlich nicht der Diabetes selber ihr Gesprächspartner.
Sorgsam platzierte ich die Kissen auf dem roten Sofa, welches ich in einem Räumungsschlussverkauf ergattert hatte. Ich konnte es mir nicht ganz erklären, aber es war mir seltsam vertraut vorgekommen, also musste es mit.
„Ähm, Huda”, ertönte es dann hinter mir.
„Nicht jetzt Diabetes”, entgegnete ich abwesend. Irgendwann waren wir im Diabeteshaus endlich von der Renovierungs- in die Dekorierungsphase übergegangen und ich hatte große Pläne.
Der Diabetes hörte jedoch nicht auf mich zu stören. „Ich glaub das ist wichtig.”
Genervt legte ich das letzte Kissen ab.
„Was denn? Ich habe doch schon Insulin gespritzt.”
„Wir haben Besuch.”
Damit hatte er nun tatsächlich meine Aufmerksamkeit. Besuch war schon lange nichts mehr Seltenes, aber für heute hatte sich niemand angekündigt.
Also drehte ich mich verwundert um… und blickte in ein Zahnlücken-Lächeln.
In dein Zahnlücken-Lächeln.
„Hi!“, grinstest du mich an.
„Wie ist sie hierhergekommen?“, fragte ich verwirrt. Ich wusste, dass mein jüngeres-Ich hier irgendwo existierte, immerhin befanden wir uns immer noch in meinem Kopf, aber in all der Zeit hatte es niemals das Diabeteshaus betreten.
Der Diabetes lächelte verlegen. „Ich habe sie eingeladen. Wir hatten noch Kuchen vom letzten Diaversary übrig, ich wollte teilen!”
Ich sah ihn entgeistert an. Das konnte nicht sein Ernst sein. Aber jetzt wo du hier warst, konnte ich den Diabetes schlecht anbrüllen. Vorbildfunktion und so.
„Wer seid ihr?“, meldete sich nun eine Stimme, von der ich ganz vergessen hatte, wie hoch und piepsig sie gewesen war.
Ich hielt inne. Wie erzählte ich Mini-Huda, dass sie sich im Kopf eine Wohnung mit ihrem Diabetes aufbauen wird und dort lautstarke Diskussionen mit einer imaginären Brokkoli-Haare-Figur führte?
„Ich bin Diabetes“, verkündigte der, nun, Diabetes, bevor ich mir eine gescheiterte Antwort überlegen konnte.
„Ohh, ich kenne dich!“, verkündigste du daraufhin und das Knäuel, was angefangen hatte sich in meinem Magen zu verknoten, zog sich endgültig zusammen. Verdammt. Ich hatte es mir fast schon gedacht, aber ich hatte die Hoffnung, dass du vielleicht doch noch etwas jünger warst.
Ich räusperte mich. „Diabetes, gehst du schon mal den Tisch vorbereiten?“
Immerhin war er schlau genug zu wissen, dass er meine Geduld schon genug strapaziert hatte, denn er winkte dir nur nochmal kurz zu und verzog sich dann Richtung Küche. Du hingegen blicktest ihm neugierig hinterher.
„Hey“, sagte ich, „wie lange kennst du schon Diabetes?“
Du schienst kurz zu überlegen. „Ein paar Wochen?“
“Und… wie kommt ihr so miteinander klar?”
Du gucktest dir auf die Finger. “Ich mag die Nadeln nicht. Aber ich jammere nur noch ganz selten, wirklich! Mama bringt mir jetzt immer Essen in die Schule und gibt mir eine Spritze und meine beste Freundin guckt dann zu.“
Ich musste über meine eigenen Erinnerungen schief grinsen. “Soll ich dir mal was Cooles verraten?“
Du nicktest eifrig mit dem Kopf.
„Ich kann in die Zukunft sehen”, flüsterte ich geheimnisvoll, „und ich weiß, dass ihr immer noch befreundet seid.“
Du sahst mich mit großen Augen an. „Aber natürlich, das haben wir einander doch versprochen.“ Dann hieltest du inne, schienst kurz nachzudenken. „Und die Spritzen? Und die Fingerpickser? Sind die auch noch da?“
Ich schluckte. „Anders, als du sie kennst, du bekommst irgendwann eine Pumpe und einen Sensor. Aber ja, sie sind noch da.“ Ich beugte mich zu dir herab und griff nach deiner Hand.
„Aber das hast du schon geahnt, nicht wahr?“
„Papa hat gesagt in fünf Jahren geht es wieder weg, er hat das gelesen.“
„Ich wünschte er hätte Recht gehabt.“
„Also bleibt es für immer? Für immer immer?“
„Wahrscheinlich.“
Du kautest auf deiner Lippe, bevor du zögerlich sagtest: „Aber für immer ist so lang.“
„Ich weiß“, antwortete ich sanft, „wirklich, ich weiß. Aber guck mich an. Du hast schon so viel geschafft.“
Die Tage im Krankenhaus, mit Kugelschreiberkreisen auf deinen Oberschenkeln und deinem Kuschelpferd im Arm. Der erste Tag wieder zu Hause und weinen, weil dein kleiner Bruder die Luftballonblume kaputt machte, die du als Abschied bekommen hattest. Deine Freude darüber wieder in die Schule gehen zu können und die Süßigkeitenkiste, die von da an immer im Schrank deiner Lehrerin stand.
All das kanntest du schon. Aber du wusstest noch nicht, dass sich deine Faszination und Eifer langsam, und mit jedem Stich mehr, in Wut verwandeln wird. Unfassbar groß und für dich unkontrollierbar. Du wusstest noch nicht, wie sehr du streiten wirst, mit deinen Eltern, deinen Ärzten, deinen Freunden.
Aber das du auch ankommen wirst, nach viele, etliche Jahre, an einem Oktoberwochenende in Frankfurt. Dort wirst du das erste Mal andere Menschen mit Diabetes treffen und es fühlte sich endlich etwas richtig an. Also hast du dir auf der Rückfahrt das Versprechen gegeben, dass sich jetzt wirklich etwas ändern wird – ändern kann.
Es folgte der vorsichtige Versuch, all das niederzuschreiben. Und plötzlich standest du auf der Bühne und blicktest in Gesichter, die jedes deiner Worte verstanden. Du hattest eine Ecke in deiner Wohnung voller gesammelter Jutebeutel, in denen immer noch Diabetessticker lagen.
Denn er kam, der Tag, an dem all das endlich okay war.
Ich dachte immer, wenn ich dich irgendwann mal treffen würde, dann würde ich dir genau das und noch viel mehr erzählen.
Aber ich sah dich an und die Wahrheit war, es gab viel mehr, was ich dir nicht sagen konnte.
Ich erzählte dir nicht, dass in manchen Momenten der Gedanke an die Ewigkeit trotzdem immer noch beängstigender war als jedes Monster unter dem Bett.
Ich erzählte dir nicht, dass mein Herz erneut ein wenig brach, weil tief in mir drin immer noch die Trauer da war und ich sie in jedem Kind mit Diabetes sah. Dass ich mir manchmal wünschte, meine Mutter würde immer noch meine Kohlenhydrate berechnen und meine Freundin meine Hand beim Spritzen halten und dass mein Vater weiterhin von der fünf Jahre entfernten Heilung überzeugt wäre. Dass mir jemand dabei geholfen hätte, dass zu finden, wonach ich lange alleine mühsam suchen musste.
Dass ich dich selbst um diesen kleinen Fetzen Sorglosigkeit, den du noch hast, beneidete.
Es gab so viel, was ich dir verschwieg, weil ich dich so gerne davor beschützen würde. Auch wenn ich wusste, dass du da durch musstest, dass ich da durch musste. Dass es unweigerlich zu uns gehörte.
Also nahm ich dich stattdessen in den Arm, drückte dich ganz fest an mich heran.
„Ich bin so stolz auf dich“, sagte ich.
Und du umarmtest mich zurück, hieltest dich genauso sehr an mir fest wie ich mich an dir.
“Gibt es jetzt Kuchen?”, murmeltest du in mein Oberteil.
Lachend nickte ich mit dem Kopf.
Du brauchtest niemanden, der dir die Zukunft sagte. Du brauchst nur jemanden, der daran glaubte, dass du jede Zukunft schaffen konntest.
Wusstest du, dass Huda eine Menge Dialoge mit ihrem Diabetes veröffentlicht hat? Hier kommst du zu all ihren spannenden, nahegehenden Beiträgen.
21 Minuten
Geschichten, Gemeinschaft, Gesundheit: Der Diabetes-Anker ist das neue Angebot für alle Menschen mit Diabetes – live, gedruckt und digital. Der Diabetes-Anker und die Community sind immer da, wo du sie brauchst. Für alle Höhen und Tiefen.
Alle wichtigen Infos und Events für Menschen mit Diabetes – kostenlos und direkt in deinem Postfach. Mit unserem Newsletter verpasst du nichts mehr.
Beliebte Themen
Ernährung
Aus der Community
Push-Benachrichtigungen