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Vor Einführung der Insulinbehandlung 1922 gab es viele Versuche, Diabetes mit Medikamenten zu behandeln, die allesamt nutzlos und teils sogar gefährlich waren. Auch die berühmtesten Professoren verordneten Menschen mit Diabetes obskurste Therapien. Spitzenreiter – von allen damaligen „Meinungsbildnern“ der Medizin empfohlen – war, man glaubt es heute kaum: Opium!
Bis die Einführung der Insulinbehandlung 1922 die Therapie des Diabetes revolutionierte, gab es zahlreiche Versuche mit den eigenartigsten Mitteln. Nur bei Typ-2-Diabetes mit Übergewicht war die Behandlung mit Gewichtsabnahme und mehr Bewegung erfolgreich. Menschen mit sehr erheblichem Insulinmangel – und das ist bei Typ-1-Diabetes immer der Fall – nahmen damals trotz aller Behandlung immer mehr ab und starben im diabetischen Koma.
So beschrieb der Berliner Internist Prof. Friedrich Theodor von Frerichs in seinem 1884 erschienenen Lehrbuch viele traurige Krankengeschichten wie diese: Otto Sch., 17 Jahre alt, Sohn eines Arbeiters, seit Januar 1872 an Durst leidend. Große Urinmenge, ca. 7,5 % Zuckerausscheidung im Urin, kam Ende Oktober in die Klinik. Skelettartige Abmagerung, gefaltete greisenartige Gesichtszüge, Körpergewicht 41 ½ Pfund! Der Versuch einer Behandlung mit kohlenhydratloser Diät war erfolglos. Tod im Koma.
Das beste Arzneimittel bei Diabetes war für von Prof. von Frerichs das Opium. Er schreibt: Um die günstige Wirkung zu erzielen, bedarf es häufig großer Gaben und es ist erstaunlich, wieviel Opiate vertragen werden, ohne dass üble Nebenwirkungen sich einstellen. Kein Wunder, dass die Patienten recht gern wieder in die Praxis kamen, um sich immer mehr Opium verschreiben zu lassen.
Prof. von Frerichs behandelte auch viele berühmte Patienten wegen verschiedenster Krankheiten – wie den Reichskanzler Otto von Bismarck, den Sozialisten Ferdinand Lassalle und Fjodor Michailowitsch Dostojewski. Die private Ambulanz des Professors lief prächtig, er verdiente hervorragend. Ein Teil seines herrschaftlichen Palais in Berlin steht heute noch, er ist jetzt Teil des Botschaftsgebäudes der Schweiz.
Auch alle anderen Koryphäen der damaligen Medizin priesen das Opium. Der in Berlin geborene Prof. Bernhard Naunyn schreibt in seinem Lehrbuch über den Diabetes 1906: „Die Zahl der empfohlenen Mittel ist Legion, und für ihre Mehrzahl fehlt es nicht an ‚Belegen‘, das heißt man sah unter dem Gebrauch der betreffenden Droge die Zuckerausscheidung heruntergehen. Doch gibt es meiner Meinung nach kein einziges Mittel außer dem Opium, welches einigermaßen zuverlässig eine günstige Wirkung ausübt.“
Wie kamen all diese Professoren auf die Idee, Menschen mit Diabetes Opium zu geben? Den Blutzuckerspiegel beeinflusst Opium wenig, es kann eher zu einer geringen Erhöhung des Blutzuckers führen. Aber den Blutzucker haben die Ärzte damals nicht gemessen, man brauchte dazu sehr viel Blut. Es wurde nur die Urinzuckerausscheidung gemessen.
Mit der Opiumbehandlung begann auch die damals übliche extrem kohlenhydratarme Kost, die zu einer Verminderung der Urinzuckerausscheidung führte. Die Gabe von Opium verminderte wahrscheinlich den dabei auftretenden Hunger. Systematisch untersucht hat damals die Wirkung des Opiums auf den Diabetes niemand. Die wissenschaftlich fundierte Medizin war noch in den Anfängen.
Einer der kritischen Wegbereiter der modernen Medizin war Prof. Claude Bernard in Paris. Er schrieb schon im Jahr 1865: „Es gibt Ärzte, die fanatisch an die Wirkung ihrer Medikation glauben und experimentell begründete Kritik nicht verstehen. Sie sagen, dass man Patienten nur Medikamente geben könne, an die man glaubt, und sie denken, Seinesgleichen ein Medikament zu geben, an dem man zweifelt, zeige Mangel an medizinischer Moral. Dieses Denken akzeptiere ich nicht, es führt dazu, sich selbst zu betrügen, um dann andere skrupellos betrügen zu können. Ich glaube, es ist besser, sich sachkundig zu machen, und dann niemanden zu betrügen.“
Kein Wunder, dass Claude Bernard unter der damaligen Ärzteschaft viele Gegner hatte, er war seiner Zeit sehr weit voraus. Aber man muss eines bedenken: Claude Bernard hat nie Patienten behandelt. Er war nie in der tragischen Situation, damals völlig hoffnungslose Menschen mit Insulinmangel betreuen zu müssen, die nur noch kurze Zeit zu leben hatten. Opium und Morphium minderten die Todesangst und das quälende Durstgefühl der völlig abgemagerten Patienten – so kann man ein wenig verstehen, warum diese heute absurd scheinende Behandlung damals üblich war.
Ab 1922 wurde die Insulinbehandlung eingeführt und trat weltweit ihren lebensrettenden Siegeszug an. In einem der ersten deutschen Lehrbücher über den Diabetes nach dem Beginn der Insulinbehandlung schrieb Prof. Friedrich Umber, der die Internistische Klinik Westend in Berlin leitete, in der er eine der ersten deutschen Diabetesstationen eingerichtet hatte: „Alle früheren, mehr oder weniger erwähnenswerten Bemühungen, auf medikamentösem Weg die Stoffwechsellage günstig zu beeinflussen, sind seit der Einführung der Insulinbehandlung hinfällig geworden.
Das gilt von den Opiaten, von den verschiedenen Atropinpräparaten, vom Santonin (Anm. des Autors: aus dem Samen eines asiatischen Strauchs), dem Sublimat, der Karbolsäure, den Kresolpräparaten, der Salizylsäure, dem Antipyrin und dem Syzigium jambulanum (Anm. des Autors: aus den Beeren eines tropischen Baumes), und erst recht von den zahlreichen mit viel Reklame vertriebenen sogenannten Antidiabeticis. Sie sind seit dem Beginn der Insulintherapie alle in der Versenkung verschwunden.“ (F. Umber: Die Stoffwechselkrankheiten, 1925)
Es ist schon beeindruckend, was für ein Arsenal an Giften bis hin zum Arsen bei Diabetes ausprobiert worden war. Aber man sollte sich darüber nicht allzu sehr lustig machen: Auch heute noch greift mancher zu jedem Strohhalm, wenn es keine Behandlung für eine schwere Krankheit gibt, auch wenn jede wissenschaftliche Grundlage dazu fehlt. Desinfektionsmittel wie Sublimat und Kresol bei Diabetes einzusetzen, wäre heute kriminell.
Aber gegen Corona-Infektionen hat der glücklicherweise jetzt nicht mehr regierende Präsident Trump solche Desinfektionsmittel angepriesen. Dazu kann man nur mit dem Arzt und Schriftsteller Friedrich Schiller sagen: Mit der Dummheit kämpfen Götter selbst vergebens!
Dank moderner Arzneiforschung gibt es heute viele wirksame Mittel, deren Unbedenklichkeit und Wirkung wissenschaftlich belegt sind, und fast alle obskuren Behandlungen des 19. Jahrhunderts sind Geschichte. Auch behandelt heute glücklicherweise niemand mehr Diabetes mit Magnetismus – im 19. Jahrhunderts eine sehr beliebte Methode, die bei diversen Krankheiten eingesetzt wurde.
Erstaunlicherweise hat eine seltsame Form der Arzneibehandlung zwei Jahrhunderte überlebt: die Homöopathie. Homöopathische Mittel haben den großen Vorteil, dass sie keinerlei Nebenwirkungen haben können, weil sie gar keine Wirkstoffe enthalten. Der sächsische Arzt Prof. Dr. Samuel Hahnemann, Erfinder dieser Behandlung zu Beginn des 19. Jahrhunderts, hat seine Mittel so lange verdünnt, bis man darin selbst mit modernsten Methoden nichts mehr nachweisen kann.
Wenn auf homöopathischen Mitteln z. B. D20 vermerkt ist, bedeutet das eine Verdünnung von 1:100 000 000 000 000 000 000, ein ganzer Ozean reicht da nicht aus, um noch ein einziges Molekül zu finden! Nach jedem Verdünnungsschritt hat Hahnemann die Fläschchen immer wieder geschüttelt und gegen ein Buch geklopft, damit sich das Lösungsmittel später daran erinnert, was es einmal enthalten hat. Mit dieser Behandlungsmethode verdiente Hahnemann zuletzt recht gut und wird bis heute von seinen Anhängern hoch verehrt.
Sein Grabdenkmal auf dem Friedhof Père Lachaise in Paris ist viel pompöser als das kleine Grab von Claude Bernard. Hahnemanns zweite Frau, eine französische Adlige, die er als 79-Jähriger heiratete (sie war 34 Jahre alt), hatte ihn und seine Homöopathie in die besten Kreise der Pariser Gesellschaft eingeführt. Auch heute noch rühmen sich Homöopathen mit bekannten Patienten wie dem englischen Thronfolger Prince Charles, der sogar seine Corona-Erkrankung homöopathisch behandelt hat.
Heute sind die Homöopathen allerdings so klug, nicht zu behaupten, dass man mit ihren besprühten Kügelchen Diabetes behandeln kann. Aber immerhin empfehlen manche, auch bei Diabetes zusätzlich zu der üblichen Behandlung noch ihre Mittel zu nehmen, um den Körper sozusagen zu stärken. Es ist ein Mysterium, wie die Homöopathie so lange überdauern konnte – aber gegen Mythen, an die treu geglaubt wird, sind alle logischen Argumente wirkungslos.
Hunderte von Kräutern wurden im Laufe der Geschichte bei Diabetes empfohlen. Manche davon haben wirklich einen Einfluss auf den Zuckerstoffwechsel, so zum Beispiel die Hülsenfrüchte wie Bohnen und Linsen. Sie stören die Zuckeraufnahme im Darm, was man nach Genuss dieser Hülsenfrüchte daran merkt, dass sich die Darmbakterien über die reichhaltigere Ernährung freuen und fleißig Gas produzieren. Für eine Behandlung des Diabetes sind diese Wirkungen allerdings völlig unzureichend.
Ein Kraut hat bis in die heutige Zeit überlebt, allerdings wurde der Wirkstoff darin erheblich chemisch verändert. Dieses Mittel ist sogar in den Olymp der Arzneimittel aufgestiegen: in die Liste der wichtigsten Arzneimittel der Welt, die von der WHO festgelegt wird.
Die Geißraute, lateinisch Galega officinalis, wurde schon im 18. Jahrhundert als Arzneimittel eingesetzt. Sie ist eine wirkliche Bereicherung für den Garten der Diabetologen. Die Pflanze blüht sehr hübsch, allerdings rate ich aus Erfahrung zur Vorsicht mit dem Samen: Gerät er auf den Kompost, füllt die Geißraute bald den ganzen Garten. Der Name Galega weist darauf hin, dass man das Kraut früher verordnete, um die Milchproduktion bei Stillenden anzuregen. Galega officinalis gab man auch als Brechmittel. Als Wirkstoff fand man zu Beginn des 19. Jahrhunderts in dieser Pflanze das Galegin, das den Blutzuckerspiegel senkt.
Allerdings hat es erhebliche unangenehme Nebenwirkungen. Chemisch verändert wurde aus dem Guanid Galegin das Diguanid Synthalin, Letzteres war in Deutschland bis 1945 als Diabetesmittel verfügbar. Allerdings führte Synthalin zu erheblichen Nebenwirkungen, vor allem an der Leber. Wieder wurde die Substanz chemisch ein wenig verändert, und es entstanden die Biguanide – in den 1970er-Jahren sehr häufig benutzte Mittel bei Typ-2-Diabetes. Aber diese Biguanide führten leider häufig zu gefährlichen Übersäuerungen des Stoffwechsels und wurden fast alle – in Deutschland 1978 – vom Markt genommen.
Nur ein Biguanid blieb im Handel, weil es Nebenwirkungen viel seltener auslöste: Metformin. Der französische Arzt Dr. Jean Sterne hatte die erste klinische Untersuchung mit Metformin 1957 in einer marokkanischen medizinischen Zeitschrift veröffentlicht. Das kleine französische Pharmaunternehmen Aron erfand den Handelsnamen: Glukophage – übersetzt bedeutet das „Zuckerfresser“. Ein treffender Name für ein Diabetesmittel! Zunächst wurde Metformin kaum verschrieben, zu sehr waren die Biguanide in Verruf geraten.
Das änderte sich, nachdem 1998 die große englische Studie UKPDS günstige Ergebnisse bei Gabe von Metformin feststellt hatte. Heute empfehlen alle Leitlinien der Welt, bei Typ-2-Diabetes zunächst Metformin einzusetzen, wenn mit Ernährung und körperlicher Bewegung das Behandlungsziel nicht erreicht wird.
Heute lächeln wir über die Kräuter, die man früher Menschen mit Diabetes gab. Aber mit modernen Methoden findet man immer wieder neue Arzneien aus dem Pflanzen-/Tierreich. So wurden die heute am häufigsten benutzten Mittel gegen hohen Blutdruck, die ACE-Hemmer, nicht von der Pharmaindustrie erfunden, sondern von der brasilianischen Schlange Jararaca, in deren Gift der Wirkstoff enthalten ist.
Es gibt in der Natur noch viele unbekannte Substanzen – die Industrie ist weltweit ständig darum bemüht, dort neue Ausgangspunkte für Medikamente zu finden. Vielleicht entdeckt man im brasilianischen Urwald eines Tages ein Mittel, das bei Diabetes hilft, wenn bis dahin vom Urwald noch etwas übrig ist.
Erschienen in: Diabetes-Journal, 2021; 70 (2) Seite 16-19
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