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„Bist du jetzt eigentlich völlig dement und bescheuert? Ist es denn SO SCHWER, sich etwas SO Einfaches zu merken?“ Mich überkommt leichtes Schütteln. Es läuft mir buchstäblich ein kalter Schauer hinunter und mein Blut verlässt mein Gesicht so rasend schnell, als würde es um sein Leben rennen. Tja, da sitze ich nun. An einem fremden Ort abends um 19 Uhr, in dem Zimmer einer Freundin weit weg von zu Hause. Ich starre auf die Insulinanzeige meiner Pumpe in der einen und auf den neuen Katheter in der anderen Hand.
So oft habe ich schon gebangt und gebetet. Dass meine Katheter und mein Insulin JA NOCH ausreichen, bis ich wieder nach Hause komme. Wie oft habe ich schon um die letzten Teststreifen gemutmaßt, mich gezwungen, nur dreimal am Tag zu messen, da sonst die letzten Tage kein Streifen mehr zum Messen übrig gewesen wäre. Wie oft habe ich schon einen Katheter beim Neuanlegen kaputt gemacht oder einen Sensor abgerissen. Jedes Mal dieser kurze kalte Schauer. Jedes Mal einen kleinen Aussetzer meines Herzens und das leichte zittrige Frösteln am ganzen Körper.
Ich denke mir dabei: „Das war das letzte Mal.“ Irgendwann ist man durch jeden Fauxpas einmal hindurch und so stark geworden, dass einem das Frösteln gar nicht mehr auffällt.
Nein, heute Abend bin ich es nicht. Wie auch. Ich sitze hier, habe an alles gedacht, habe alles doppelt und dreifach eingepackt und – tja, und dennoch eine Sache vergessen; ich habe den falschen Katheter eingepackt. Den MIT SETZHILFE. Verdammt!
Eigentlich wollte ich mit meiner Freundin kochen. In 10 min kommen die ersten Freunde und es soll ein entspannter lustiger Abend werden. Und mein Zucker, der darf dabei sein – aber hey – dabei und nicht der Alleinunterhalter auf der Improbühne.
„Alles okay bei dir?“ – Mhmm, sag ich jetzt ja oder nein? Ich will gar nichts sagen, denn NEIN, es ist eine KATASTROPHE – ich bin eine Katastrophe und ich ärgere mich unheimlich, dass ich wegen eines – eines einzigen Teils schon wieder völlig aus dem Rahmen falle. Nicht einfach das Mädchen, die Freundin von weit weg sein kann, die gerne mit all den anderen zusammen kocht. Nein, bevor ich überhaupt hallo sagen kann und mich vorstellen – bin ich schon wieder das Mädchen mit dem Diabetes, die ihre Sachen vergessen hat und nun da sitzt und nicht weiterweiß.
Meine Gedanken kreisen. Lösung. Ich brauche eine Lösung. Als Erstes denke ich an meine Mama. Ich wähle die Nummer und lege wieder auf, denn NEIN, meine Mama kann mir JETZT gerade nicht helfen. Die Ärzte haben schon zu und die Klinik… Ich will den Abend jetzt nicht sprengen. Ich will nicht alles durcheinanderbringen und ein Riesentheater darum machen. Ja, ich habe Diabetes, aber das ist nicht die Welt.
Ich google und schreibe mir Adressen raus. Schreibe auf Facebook. Wofür kennt man denn die Welt?! HA – wenn ich einfach nur das Reservoir wechsle? Für den Anfang? Ich denke nach. Gar keine schlechte Idee. Nur für heute. Wenn ich etwas tue, was mir von Ärzten „eigentlich“ verboten wird, habe ich einen so hohen Adrenalinspiegel, dass ich kaum richtig bei Sinnen bin. Vielleicht so wie bei „Wer wird Millionär“ bei der 1-Millionen-Frage und keinem übrigen Joker. Mein erster Gedanke: „Kann ich davon sterben? Was passiert dann?“ – Wenn das mein Arzt erfährt…
Ich denke nicht weiter darüber nach und mache einfach. Ein neues Reservoir an den alten Schlauch (bitte weghören für die Empfindlichen – das war eine Notlösung, kein Dauerzustand). Die Pumpe piepst und der Insulinstand springt von 13 E auf 180… und mein Puls. Der sinkt langsam und kontinuierlich.
Ja, ich bin das Mädchen mit Diabetes. Und inzwischen sind die ersten Freunde schon da. Ich höre sie gedämpft draußen nach mir fragen. „Sie hat ein kleines Problem mit ihrem Diabetes.“ Ich atme tief ein. Ja, ich habe ein kleines Problem. Meine jugendliche Demenz und Vergesslichkeit in manchen Situationen, die mich oft an den Rand meiner Existenz bringen. Wofür gibt es Achterbahnen und Bungee-Jumping, wenn man doch einfach nur eine Packung Teststreifen, das Messgerät, seinen Pen oder die Setzhilfe vergessen muss. Zu wenig Zucker in der Tasche hat oder vergessen hat, ob man sich nun schon gespritzt hat oder nicht. (Ja, auch das kann passieren, wenn man alles gleichzeitig und am besten noch während des Redens und unter dem Tisch in einem vollen Restaurant macht.)
Ja, Vergesslichkeit ist grauenvoll und diabetestechnisch völlig inakzeptabel, ABER wir sind auch nur Menschen und wer hat gesagt, dass man alles immer genau so machen muss wie vorgeschrieben?! Manchmal darf und muss man auch improvisieren. Und vor allem um Rat fragen. Ob auf Facebook in einer Diabetes-Gruppe, Im Internet auf Online-Plattformen wie der Blood Sugar Lounge, bei kommunalen Diabetes-Stammtischen (z.B. Diabetes Typ 1 München und Umgebung) oder einfach in der Klinik oder bei Ärzten vor Ort. Denn überall auf der Welt sind Menschen mit Krankheiten und überall gibt es Menschen, die einem gerne helfen. Nicht gleich aufgeben, die Sachen packen und heimfahren und vor allem – vor allem nicht den Abend kaputt machen lassen und aufgeben. Der Diabetes ist eine Rampensau, aber was er kann, das kann ich auch!
Ich lebe noch. Auch wenn mein Katheter drei Tage länger in meiner Haut steckte als von ärztlicher Seite vorgegeben. Nun bin ich wieder um eine Erfahrung und einen kalten Schauer reicher. Und der Abend. Der Abend war wundervoll. Denn ja, ich bin das Mädchen mit Diabetes, aber noch viel, viel mehr. Und da draußen gibt es so viele tolle Menschen, die auch alle so viele Seiten und Geschichten in sich haben. Da hat mein Diabetes keinen Platz gehabt für eine Sondervorführung alleine auf der Improbühne des Lebens. Tja – damit muss er klarkommen. Nicht immer leicht für Aufmerksamkeitsverliebte … ’tschuldigung Diabetes. That’s Life!
Ein hoch auf uns Organisations- und Improvisationstalente! Lasst es euch gut gehen! 🙂
9 Minuten
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