Experten-Interview: Gesundheit beginnt im Mund – vor allem bei Diabetes

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Experten-Interview: Gesundheit beginnt im Mund – vor allem bei Diabetes | Foto: Andreas Schickert / MedTriX
Foto: Andreas Schickert / MedTriX
Experten-Interview: Gesundheit beginnt im Mund – vor allem bei Diabetes

Der Parodontologe Prof. Dr. Thomas Kocher und der Diabetologe PD Dr. Erhard Siegel erklären im Diabetes-Journal-Interview, wieso vor allem für Menschen mit Diabetes die Gesundheit im Mund beginnt.

Im Interview: PD Dr. Erhard Siegel und Prof. Dr. Thomas Kocher

Privatdozent Dr. med. Erhard Siegel ist Präsident der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG). Der Ärztliche Direktor der Klinik für Gastroenterologie, Diabetologie und Ernährungsmedizin am St. Josefskrankenhaus Heidelberg GmbH wurde in Backnang/Baden-Württemberg geboren und studierte Medizin in Heidelberg, Tübingen und Göttingen. Nach seiner Habilitation zum Thema “Pathophysiologie und therapeutische Ansätze des hepatogenen Diabetes” ernannte ihn die Christian-Albrechts-Universität im Februar 2001 zum Privatdozenten.

Prof. Dr. med. dent. Thomas Kocher ist Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Parodontologie e.V. Nach seiner Promotion und verschiedenen Stationen an Zahnkliniken in Tübingen, Göteborg (Schweden), Münster und Kiel ist er seit 1995 Leiter der Abteilung Parodontologie im Zentrum für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde an der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald. Seine Fachgebiete umfassen epidemiologische Aspekte der Parodontalerkrankungen, Wurzeloberflächenbearbeitung (Entwicklung von Instrumenten und deren präklinische und klinische Prüfung) sowie die Interaktion Parodontitis/Herz-Kreislauf-Erkrankungen.

Diabetes-Journal (DJ): Was verbindet Menschen mit Diabetes und Parodontitis-Patienten?

PD Dr. Erhard Siegel: Beide Krankheiten kann man aufgrund ihres hohen Verbreitungsgrades als Volkskrankheiten bezeichnen. Und die Verbreitung von Diabetes steigt europaweit kontinuierlich an. Die hohe Dunkelziffer mit eingerechnet leiden heute schätzungsweise mehr als 8 Millionen Menschen in Deutschland an Diabetes. Neben den schon lange bekannten Spätfolgen des Diabetes mellitus wie Schädigung der Arterien (Makroangiopathien), Erkrankungen des peripheren Nervensystems (Neuropathien), der Nieren (Nephropathien) und der Netzhaut (Retinopathien) sowie deren Folgen wird heute auch von der Parodontitis (Entzündung des Zahnhalteapparates) als einer weiteren wichtigen Diabetesfolgeerkrankung gesprochen.

Prof. Dr. Thomas Kocher: An Parodontitis sind bereits ca. 15 bis 20 Prozent der deutschen Bevölkerung schwer erkrankt. Zwischen Parodontitis und einem Diabetes mellitus bestehen enge – für die Betroffenen äußerst ungünstige – Wechselbeziehungen: Für Dia­betespatienten besteht die Gefahr einer chronischen Parodontitis. Parodontitispatienten wiederum besitzen ein erhöhtes Risiko, an Diabetes zu erkranken.

PD Dr. Siegel: Denn eine Parodontitis wirkt sich nicht nur negativ auf einen vorhandenen Diabetes aus, sondern kann ihn auch auslösen!

DJ: Was spricht dafür, dass Zahnärzte und Diabetologen neben ihrem eigentlichen Behandlungsgebiet auch über den fachlichen Tellerrand schauen?

PD Dr. Siegel: Da sowohl die Parodontitis als auch der Diabetes mellitus Systemerkrankungen sind, die über Organ-, Sektor- und Fachgrenzen hinausgehen und sich wechselseitig beeinflussen, erfordert die optimale Behandlung der Parodontitis bei Diabetes einen ganzheitlichen Ansatz, der Zahnmedizin und Diabetologie einschließt. Eine effektive Behandlung der parodontalen Entzündung kann nicht nur die lokalen Symptome der Erkrankung des Parodonts verbessern, sondern kann auch den Status und damit die Einstellbarkeit des Dia­betes verbessern.

Prof. Dr. Kocher: Hierbei ist entscheidend, die Parodontalbehandlung sehr sorgfältig und professionell durchzuführen, um die gewünschten Effekte zu erreichen – darauf lässt eine aktuelle amerikanische Studie schließen. Weiterhin ist die Betreuung des parodontal erkrankten Patienten wie auch des Diabetikers lebenslang notwendig. Die Patienten müssen in hohem Maße kooperativ und diszipliniert sein, Behandlungstermine regelmäßig wahrnehmen, damit positive Ergebnisse über lange Zeit beibehalten werden. Haus- und Zahnärzte sollten ihre Patienten mit einer Stimme unterstützen, beraten und auch motivieren, um einen nachhaltigen und bestmöglichen Behandlungserfolg zu erzielen.

DJ: Wie können Zahnärzte das Dia­betes-Management ihrer Patienten unterstützen?

Prof. Dr. Kocher: Bei allen neu diagnostizierten Typ-1- und Typ-2-Diabetikern sollten parodontale Untersuchungen durch den Zahnarzt zur Routine in der Diabetesbehandlung werden. Kinder und Jugendliche mit der Diagnose Diabetes sollten bereits ab dem 6. bzw. 7. Lebensjahr jährlich von einem Zahnarzt untersucht werden.

Im Rahmen der Erstuntersuchung beim Zahnarzt sollten daher auch bei Verdachtsmomenten eine ausführliche Anamnese und ggf. ein Blutzuckertest durchgeführt werden. Dies gilt auch für Patienten, die sich ohne Diabetesdiagnose, aber mit offensichtlichen Risikofaktoren für einen Typ-2-Diabetes (Übergewicht, Bluthochdruck, positive Diabetes-Familienanamnese) und Zeichen einer Parodontitis beim Zahnarzt vorstellen. So können Risikopatienten schon präventiv gezielt zum Diabetologen überwiesen werden.

DJ: Wie können behandelnde Ärzte erkennen, dass ihre Patienten ggf. an Parodontitis erkrankt sind?

PD Dr. Siegel: Aufgrund der gut belegten wechselseitigen Beeinflussung von Parodontitis und Diabetes mellitus sollten Fragen nach Parodontal­erkrankungen in die Anamnese bei der routinemäßigen Untersuchung von Diabetespatienten aufgenommen werden. Das kann mit Hilfe eines standardisierten Fragebogens erfolgen (Anmerkung: siehe unten).

Ferner weisen offenkundige Symptome der Parodontitis wie Mundgeruch, Zahnfleischbluten, gelockerte Zähne, Zahnwanderungen und/oder Zahnfleischabszesse auf eine manifeste Erkrankung hin – und der Diabetiker sollte zur Parodontalbehandlung an den Zahnarzt überwiesen werden.

Bei einer schwierigen Einstellung des Blutzuckers muss immer an das Vorhandensein einer Parodontalerkrankung gedacht werden. Das Vorhandensein schwerer Parodontitiden erhöht die Insulinresistenz der Gewebe und erschwert so die Einstellung des Blutzuckers. Eine Parodontitis beeinflusst einen Diabetes negativ und kann zu einer Erhöhung des Blutzuckerspiegels und auch des HbA1c-Wertes bei Diabetikern führen.

DJ: Ist bei Typ-1- und Typ-2-Diabetikern das Risiko, an Parodontitis zu erkranken, gleich hoch?

PD Dr. Siegel: Typ-2-Diabetiker wie auch Typ-1-Diabetiker haben ein 3-fach höheres Risiko für eine Parodontalerkrankung als Nichtdiabetiker. Außerdem erhöht ein schlecht eingestellter Diabetes das Risiko für Knochenverlust im Kiefer und für einen schwereren Verlauf der Parodontitis. Ein gut eingestellter Dia­betiker hat dagegen kein höheres Risiko als ein Gesunder.

DJ: Was tun Sie als medizinische Fachgesellschaft dafür, um das Bewusstsein und die Bereitschaft zur interdisziplinären Zusammenarbeit zu stärken?

PD Dr. Siegel: Unsere beiden Verbände haben sich zusammengetan, um gemeinsam für eine bessere Aufklärung bei Haus- und Fachärzten zu sorgen. Wenn wir eine bessere interdisziplinäre Zusammenarbeit fördern möchten, müssen wir selber auch mit positivem Beispiel vorangehen.

Kocher: Wir haben als DGParo eine umfangreiche Aufklärungskampagne gestartet und versuchen beispielsweise über die einschlägige Fachpresse, eine größtmögliche Reichweite unter Zahnärzten zu erzielen. Gemeinsam mit der DDG sprechen wir gezielt Allgemeinmediziner und Diabetologen an. Auch unsere Internetseiten bieten ausführliche Informationen. Denn angesichts der Beziehung zwischen beiden Erkrankungen erfordert die erfolgreiche Behandlung der Diabetespatienten einen ganzheitlichen Ansatz, der auch die Zahnmedizin mit einbezieht. Dafür muss das interdisziplinäre Bewusstsein für parodontale Erkrankungen als Folge des Diabetes mellitus geschaffen bzw. geschärft werden. Vor diesem Hintergrund sollte künftig die fachübergreifende Kooperation zwischen zahnärztlich, hausärztlich oder internistisch tätigen Medizinern intensiviert und weiter ausgebaut werden.

DJ: Was kann man tun, um Patienten besser und zielgerichtet aufzuklären? Was tun Sie bereits, wo gibt es noch Handlungsbedarf?

Prof. Dr. Kocher: Haus- und Zahnärzte sind wohl die Ärzte, die am häufigsten aufgesucht werden. Wir sehen sie daher in der Verantwortung, auch im Hinblick auf Diabetes mellitus und Parodontitis ganzheitliche Zusammenhänge zu erkennen, eine Erstberatung zu leisten und an entsprechende Fachärzte weiterzuverweisen. Die Sensibilisierung der Ärzte für diese Zusammenhänge ist daher aus unserer Sicht der beste Dienst, den wir den Patienten erweisen können. Unsere Aufklärungskampagne richtet sich aber auch an die Patienten direkt, denn nur ein mündiger Patient kann im Zweifel die richtigen Hinweise geben bzw. die richtigen Fragen stellen.

PD Dr. Siegel: Patienten mit Diabetes sollten wissen, dass das Parodontitis- und Zahnverlustrisiko durch einen Diabetes erhöht wird. Wenn sie bereits an Parodontitis erkrankt sind, müssen sie dar­über informiert werden, dass ihre Blutzuckereinstellung schwieriger sein kann und sie ein höheres Risiko für diabetische Komplikationen wie Herz-Kreislauf- und Nierenerkrankungen haben.

Prof. Dr. Kocher: Im Zusammenhang mit dem erhöhten parodontalen Erkrankungsrisiko und den damit verbundenen Komplikationen müssen sie besonders über die Bedeutung der täglichen häuslichen Mundhygiene wie auch über die notwendige lebenslange Betreuung durch ihren Zahnarzt aufgeklärt werden. Neben der regelmäßigen täglichen Entfernung der Plaque (Zahnbelag) mit Hilfe einer Zahnbürste gehören hierzu auch die regelmäßige Anwendung von Zahnseide oder Zahnzwischenraumbürsten. Diabetes­patienten sollten generell, auch ohne Beschwerden, regelmäßig zu den zahnärztlichen Kontrolluntersuchungen gehen.

DJ: Was kann die Politik tun, um die Möglichkeiten interdisziplinärer Zusammenarbeit zu verbessern?

PD Dr. Siegel: Eine sektorübergreifende Versorgung ist dringend notwendig. Hier ist nicht nur die Politik, sondern auch die Selbstverwaltung der Ärzteschaft gefordert. Derzeit haben wir keine Basis, um überhaupt vom Zahnarzt zum Dia­betologen oder umgekehrt überweisen zu können.

DJ: Was ist der wichtigste Rat, den Sie Ihren Patienten mit auf den Weg geben?

Prof. Dr. Kocher: Da ein an Diabetes erkrankter Patient ein erhöhtes parodontales Risiko aufweist, ist eine sehr gute häusliche Mundhygiene wichtig. Wie im allgemeinen Management des Diabetes mellitus ist auch in Bezug auf die Mundpflege eine kooperative und eigenverantwortliche Haltung des Patienten unabdingbar. Patienten sollen regelmäßig zu den zahnärztlichen Kontrolluntersuchungen gehen und eine regelmäßige professionelle Zahnreinigung (PZR) durchführen lassen.

Schwerpunkt „Mundgesundheit: Dem Diabetes auf den Zahn gefühlt“


Interview: Günter Nuber

Erschienen in: Diabetes-Journal, 2014; 63 (3) Seite 30-33

 

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  • gingergirl postete ein Update vor 1 Woche

    Hallo zusammen meine name ist chiara und ich bin seit knapp 3 monaten mit der diagnose diabetes typ 1 diagnostiziert. Eigentlich habe ich es recht gut im griff nach der diagnose die zweite woche waren meine werte schon im ehner normalen bereich und die ärzte waren beeindruckt das es so schnell ging da ich aber alles durch die ernährung verändert habe und strickt mich daran halte war es einfach und man sah es sofort.
    Ich habe ein paar Fragen kann man überall am oberarm den sensor ansetzten( da ich ihn jetzt eher etwas hoch habe beim muskel) und muss man jeden dexcom g7 sensor kalibrieren am anfang beim wechseln? .
    Und ich habe bei den overpatch pflastern immer so viel kleberesten am arm kann das am pflaster liegen? Weil es ist ein transparentes und ich habe das gefühl es kriegt wie keine luft… Ich hab mir jetzt nur mal neue pflaster bestellt aber bei einem ist kein loch wo der dexcom ein löchli hat
    Und wie ist das bei euch wegen abnehmen funktioniert das oder nicht?
    Und wie spritzt ihr wenn ihr ihn der Öffentlichkeit seit an einem fest /Messe oder so?
    Da ich nicht immer auf die Toilette renne kann?
    Danke schonmal im Voraus

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    • Hallo,

      Als ich noch die ICT Methode hatte habe ich bei Konzerten oder Messen mir das Kurzzeitinsulin in den Bauch gespritzt und das Langzeit oben am Gesäß.Hat meist keiner mitbekommen.
      Meinen Sensor setzte ich oben am Arm,ist für mich angenehmer 🙂
      Ich bin froh das die Technik so gut ist und nicht mehr so Steinzeitmäßig wie vor 42 Jahren *lach*

      LG Sndra

    • Hallo Chiara! Mit dem Spritzen habe ich es wie Sandra gemacht. Abnehmen ist echt schwierig – ich komme da nicht gut weiter, ich muss aber auch für zwei weitere Leute kochen und deren Essenswünsche sind da nicht unbedingt hilfreich. LG

  • hexle postete ein Update vor 1 Woche, 1 Tag

    Hat jemand Tipps bei einer Pfalsterallergie gegen dexcom g6. Ich muss die vorhandenen Sensoren noch verwenden, bis die Umstellung auf g7 durch ist.

  • tako111 postete ein Update vor 1 Woche, 5 Tagen

    Fussschmerzen lassen leider keine Aktivitäten zu!

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