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Unterzuckerungen können bei einem Diabetes, der mit Insulin oder bestimmten anderen Medikamenten behandelt wird, auftreten. Um die unangenehmen und potentiell gefährlichen Situationen zu verhindern, ist es wichtig zu verstehen, wann, wie und warum Unterzuckerungen entstehen. Einen Überblick über Definition, Ursachen und Behandlung gibt es daher hier.
Menschen mit Diabetes sind häufiger von körperlichen und auch psychischen Beeinträchtigungen betroffen als Menschen ohne Diabetes. Mit zunehmendem Alter und auch der Diabetesdauer nimmt die Häufigkeit solcher Beeinträchtigungen zu. Wenn sie auftreten, stellen sie eine besondere Gefährdung für Menschen mit Diabetes dar.
Dies gilt speziell, wenn sie mit Insulin behandelt werden oder mit Tabletten, die eine Unterzuckerung hervorrufen können, wie Sulfonylharnstoffe. Denn der Diabetes ist zwar durch zu hohe Blutzuckerwerte charakterisiert, Unterzuckerungen können aber eben durch die medikamentöse Behandlung auftreten.
Dr. med. Gerhard-W. Schmeisl (Bad Kissingen) ist Internist sowie Facharzt für Diabetologie, Angiologie und Sozialmedizin und hat jahrzehntelange praktische Erfahrung in der Behandlung und Schulung von Menschen mit Diabetes in Praxis und Klinik. Er schreibt in der Rubrik Diabetes-Kurs über die Diabetes-Therapie und alles, was sonst noch mit dem Diabetes zusammenhängt.
In den letzten Jahren häufen sich Studien und auch Beobachtungen in Praxis und Klinik, die einen Zusammenhang zwischen Unterzuckerungen (Hypoglykämien) und dem Auftreten einer Demenz belegen. Dies gilt insbesondere, wenn die Unterzuckerungen gehäuft auftreten. Umgekehrt zeigen Studien aber auch, dass Menschen mit Diabetes und einer Demenz durch Unterzuckerungen besonders gefährdet sind.
Sind durch eine Hypoglykämie und eine Demenz Sinnesfähigkeiten, also Hören, Sehen und Fühlen, die Beweglichkeit, insbesondere der Hände und Finger, sowie das Denken beeinträchtigt, kann dies zu nicht passendem Handeln führen. Dies stellt eine extreme Herausforderung für ein selbst durchgeführtes Diabetes-Management oder auch mit Hilfe der Angehörigen dar.
Merke: Unterzuckerungen können gefährlich sein – erst recht im höheren Alter.
Unterzuckerungen zu verhindern, hat auch bei der Entscheidung für eine bestimmte Therapie oberste Priorität. Dann stellen sich Fragen: Ist eine Insulintherapie das Richtige? Wenn, welche? Führt eine Therapie mit Tabletten oder einem anderen Medikament zum Spritzen noch zum Ziel? Welche Art des Zuckermessens ist geeignet und nötig?
Johanna M., 68 Jahre alt und seit 30 Jahren Typ-1-Diabetes, hatte in den letzten zwei Jahren häufiger schwere Unterzuckerungen, weshalb sie schon mehrfach stationär in der Klinik behandelt werden musste. Sie konnte ihr Insulin zwar immer noch selbst spritzen. Aber manchmal wusste sie nicht mehr, ob sie es schon gespritzt hatte oder noch nicht. So hatte sie, wie man in der Klinik vermutete, auch gelegentlich die doppelte Dosis gespritzt.
Aktuell überlegt sie gemeinsam mit ihrer Tochter und dem Hausarzt, wie dieses Problem zu lösen ist. Eventuell über einen Pflegedienst, der zu „ihren Spritz-Zeiten“ zu ihr kommt? Noch kann sich Johanna M. mit diesem Gedanken nicht anfreunden – wiederholt wegen Unterzuckerungen in die Klinik zu müssen, will sie aber auch nicht.
Für Menschen ohne Diabetes gilt: Ab einem Glukosewert von 50 mg/dl bzw. 2,8 mmol/l liegt eine Unterzuckerung vor. Für Menschen mit Diabetes ist die Definition der Unterzuckerung weltweit nicht einheitlich. Der Glukosewert, ab dem Anzeichen für eine Unterzuckerung auftreten, ist individuell unterschiedlich: bei einigen schon bei etwa 70 bis 80 mg/dl bzw. 3,9 bis 4,4 mmol/l, bei anderen erst bei 50 mg/dl bzw. 2,8 mmol/l … Manche Menschen fühlen sich schon bei Werten von 90 bis 100 mg/dl bzw. 5,0 bis 5,6 mmol/l unterzuckert, vor allem, wenn sie vorher jahrelang hohe Glukosewerte hatten.
Die „International Hypoglycaemia Study Group“ hat nun ein abgestuftes Schema der Definition entwickelt (s. Tab 1). Danach beginnt eine leichte Unterzuckerung bei einem Glukosewert von 70 mg/dl bzw. 3,9 mmol/l. Ab etwa diesem Wert beginnt die Leber eines Menschen, Zucker ins Blut abzugeben, als „Gegenregulation“. Denn gewöhnlich wird im menschlichen Blut der Zucker in einem Bereich zwischen 70 und 110 mg/dl bzw. 3,9 und 6,1 mmol /l konstant gehalten. Stufe 2 ist erreicht bei 54 mg/dl bzw. 3,0 mmol/l. Ist Fremdhilfe erforderlich, ist unabhängig vom Wert Stufe 3 erreicht.
Tab. 1: | ||
Stufe 1 milde Hypoglykämie | 70 mg/dl bzw. 3,9 mmol/l und darunter |
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Stufe 2 klinisch bedeutsame Hypoglykämie | unter 54 mg/dl bzw. 3,0 mmol/l |
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Stufe 3 schwere Hypoglykämie | keine spezifische Glukoseschwelle |
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Bei Gesunden werden bei einem Abfall des Blutzuckers unter 63 mg/dl bzw. 3,7 mmol/l die Insulin-Gegenspieler Glukagon, Adrenalin, Kortisol und Wachstums-Hormon ausgeschüttet. Das wichtigste Hormon zu Beginn der Unterzuckerung ist das Glukagon aus den Alpha-Zellen der Bauchspeicheldrüse. Dieses steigert in der Leber die Zucker-Ausschüttung ins Blut.
Auch das Nebennieren-Hormon Adrenalin wird bei niedrigen Glukosewerten ausgeschüttet, was zu den für eine Unterzuckerung typischen Symptomen wie Schweißausbruch, Zittern und schneller, heftiger Herzschlag führt. Diese Symptome merken Menschen ohne Diabetes bei einem Glukosewert von etwa 57 mg/dl bzw. 3,2 mmol/l.
Weitere zusätzlich aktiv werdende gegenregulatorische Hormone wie Kortisol und Wachstumshormon reagieren mit einer zeitlichen Verzögerung. Sie hemmen den Zuckerverbrauch und stimulieren die Zuckerneubildung in der Leber. Bei einem weiteren Abfall der Zuckerwerte unter 50 mg/dl bzw. 2,8 mmol/l kommt es schließlich zu Zeichen des Zuckermangels im Gehirn (neuroglykopenische Symtome), wie Konzentrationsstörungen, Sehstörungen, Schwindel oder Störungen der Feinmotorik.
Tab. 2: |
Mögliche Symptome einer Unterzuckerung (Auswahl):
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Mögliche Symptome bei schwerer Unterzuckerung (Auswahl):
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Ursachen für Unterzuckerungen sind häufig:
Bei einer leichten Hypoglykämie sollten sofort „schnelle Kohlenhydrate“ gegessen oder getrunken werden, und zwar eine bis zwei Kohlenhydrat-Einheiten (KEs), also 10 bis 20 Gramm Kohlenhydrate.
Etwa 10 Gramm schnelle Kohlenhydrate sind:
Bei einer mittelschweren Hypoglykämie sollten sofort ein bis zwei schnelle KEs, aber dann auch sofort zusätzlich mindestens eine KE mit langsam aufgenommenen Kohlenhydraten gegessen werden. Dies kann zum Beispiel eine Scheibe Vollkornbrot mit Butter sein. Sollte eine Hauptmahlzeit unmittelbar bevorstehen, kann auch – statt der langsamen KE – mit den Kohlenhydraten der Hauptmahlzeit begonnen werden.
Bei einer schweren Hypoglykämie benötigen die Betroffenen Hilfe von Dritten, also Fremdhilfe. Sie können nicht mehr selbst Entscheidungen treffen, können bewusstlos sein und Krämpfe haben, die aussehen können wie ein Krampfanfall oder ein Schlaganfall. Da man einer bewusstlosen Person niemals etwas zu trinken oder zu essen geben und sie in die stabile Seitenlage bringen sollte, hilft die Gabe von Glukagon: als Nasenpulver (Handelsname: Baqsimi) oder als Spritze ins Unterhautfettgewebe (GlucaGen HypoKit). Neu ist auch das Glukagon-Analogon Dasiglucagon zum Spritzen mit dem Handelsnamen Zegalogue.
Neben den bereits beschriebenen Ursachen einer Unterzuckerung, denen man vorbeugen kann, gibt es weitere Hilfen, die sich auch kontinuierlich weiterentwickeln. Kontinuierlich messende Glukose-Sensoren – auch barrierefrei zu bedienende –, einfacher bedienbare Insulinpumpen und besser handhabbare Insulinpens – auch mit Gedächtnis-Funktion – können helfen, Unterzuckerungen zu verhindern. Auch neuere Insuline, die zu einem stabilen Glukoseverlauf beitragen, sind hilfreich.
Hand in Hand mit diesen Entwicklungen müssen auch Schulungen und deren Inhalte ständig überarbeitet und auch flächendeckend angeboten werden, angepasst an das Alter und die Fähigkeiten der Betroffenen. Gefahren lauern für Betroffene auch in kritischen Alltagssituationen, z. B. bei einer plötzlich notwendigen Behandlung im Krankenhaus, wenn dort nicht entsprechend geschultes Personal vorhanden ist. Dies kann nur durch eine stetige Fortbildung des ärztlichen und pflegerischen Personals geleistet werden.
Mit zunehmendem Alter sind Menschen mit Diabetes besonders durch Unterzuckerungen gefährdet. Bei der Auswahl der Medikamente zur Behandlung des Diabetes muss dies berücksichtigt werden. Auch nimmt die Zahl der Menschen mit Diabetes und Demenz mit steigendem Alter zu – eine besondere Herausforderung für Betroffene, Angehörige und Behandler.
Erschienen in: Diabetes-Anker, 2024; 72 (10) Seite 38-41
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