Über 20.000 Diabetesforscher treffen sich im Internet

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Über 20.000 Diabetesforscher treffen sich im Internet

Die jährliche Tagung der europäischen Gesellschaft für Diabetesforschung (EASD) ist der größte internationale Diabeteskongress der Welt. Das Corona-Virus machte den in ­Wien 2020 geplanten Kongress unmöglich. Deshalb wurde im Oktober ein virtueller Kongress organisiert. Wir berichten.

Genau 20.139 Teilnehmer aus 141 Ländern nahmen teil am EASD. 264 freie Vorträge, 712 Posterpräsentationen und 121 eingeladene Vorträge lieferten einen umfassenden Blick auf die aktuellsten Ergebnisse der Forschung. Die meisten Erstautoren (102) kamen aus dem Vereinigten Königreich, gefolgt von den USA (97), Dänemark (90), Deutschland (77) und Italien (71). Es folgten China (67) und Japan (48).

Prof. Stefano Del Prato: Statt in Wien begrüßte der EASD-Präsident die über 20 000 Teilnehmenden des großen EASD-Kongresses im Internet.

Es war eine neue Erfahrung, live die Vortragenden aus aller Welt in ihrem Labor oder in ihrer Wohnung zu erleben. Manche RednerInnen in den USA mussten ihren Vortrag mitten in der Nacht halten und waren etwas schläfrig. Live konnten die Zuhörenden Fragen schicken.

Spooky: als Avatar Kollegen treffen

Man konnte sogar in einem virtuellen Kongressgebäude herumspazieren. Dafür musste man sich eine Kunstfigur, einen Avatar, aussuchen (siehe Bild oben). Der Begriff kommt aus der Sprache Sanskrit und bezeichnet Götter, die eine irdische Form annehmen. Als gespenstische Halbgötter in Weiß schwebten so die DiabetologInnen durch den Kongresspalast. Näherte man sich anderen TeilnehmerInnen, so erschien der Name und man konnte miteinander kommunizieren, sei es per Chat oder per Telefon.

Minkowski-Preis ging nach Italien

Mit dem nach dem deutschen Diabetesforscher Prof. Oskar Minkowski benannten Preis ehrt die EASD jedes Jahr einen jüngeren Diabetesforscher aus Europa. Dieses Jahr wurde Prof. Gian Paolo Fadini von der Universität Padua ausgezeichnet. Sein Thema ist die Rolle der Stammzellen bei Diabetes. Stammzellen stammen aus dem Knochenmark und sind für den Wiederaufbau und die Reparatur von Geweben im Körper zuständig.

Bei schlechter Einstellung des Diabetes kann es zu einer gestörten Freisetzung von Stammzellen kommen. Sie sind aber für Reparaturmechanismen in verschiedenen Geweben unbedingt notwendig. Dies gilt auch für die Stammzellen, die für die Neubildung von Endothelzellen verantwortlich sind, die Blutgefäße auskleiden. Fadini glaubt, dass dies eine Rolle bei der Entwicklung der Diabetes-Folgeerkrankungen spielen könnte.

Claude-Bernard-Preis geht nach Japan

Mit dem Claude-Bernard-Preis zeichnet die EASD einen Diabetesforscher für sein Lebenswerk aus. Dieses Jahr erhielt Prof. Takashi Kadowaki aus Tokio den Preis. Herausragend waren seine Forschungen über Adiponektin, ein Hormon, das in Fettzellen gebildet wird. Sind Fettzellen voller Fett, wird wenig Adiponektin gebildet, sind sie leer, wird die Produktion von Adiponektin gesteigert.

Für sein Lebenswerk geehrt wurde Prof. Takashi Kadowaki aus Tokio auf dem virtuellen EASD-Kongress 2020 in Wien … nein: im Internet.

Übergewichtige haben einen niedrigen Adiponektin-Spiegel, was die Wirkungen von Insulin abschwächt. Kadowaki entdeckte auch die Rezeptoren, an die das Adiponektin andockt, und eine Substanz, die diese Rezeptoren hemmt.

6 Mio. dänische Kronen nach Köln

Die EASD wählt den von der Novo Nordisk Foundation finanzierten „Diabetes Prize for Excellence“ aus. Er ist mit 6 Mio. dänischen Kronen (ca. 800.000 €) dotiert. Der Preis ging dieses Jahr an Prof. Jens Brüning. Er leitet in Köln das Max-Planck-Institut für Stoffwechselforschung und die Poliklinik für Endokrinologie, Diabetologie und Präventivmedizin der Uniklinik Köln. Er berichtete über seine Arbeiten über die Bedeutung des Gehirns für den Stoffwechsel.

Ausgezeichnet: Prof. Jens Brüning aus Köln für seine Forschung über die Bedeutung des Gehirns für den Stoffwechsel.

Im Gehirn steuern zwei Sorten Nervenzellen den Stoffwechsel: Die einen regen die Nahrungsaufnahme an und bewirken Gewichtszunahme. Sind die anderen aktiv, hat man weniger Hunger und nimmt ab. Prof. Brüning entdeckte eine weitere Gruppe von Nervenzellen, die wiederum auf diese Zellen einwirken. Er machte ein interessantes Experiment: Er präsentierte Mäusen Futter in einem Käfig, sodass sie das Futter zwar sehen und riechen, aber nicht fressen konnten.

Es kam dennoch in den von Brüning entdeckten Nervenzellen zu einer Reaktion wie nach Nahrungsaufnahme. Die Nervenzellen, die Hungergefühl auslösen, wurden angeregt. Dies wiederum führte über das unbewusste (autonome) Nervensystem zu Wirkungen an der Leber und beeinflusste dort Zucker-, Fett- und Eiweißstoffwechsel. Vielleicht führt eine genauere Kenntnis dieser Vorgänge irgendwann zur Entwicklung neuer Medikamente gegen Übergewicht.

Typ-1-Diabetes: Betazellen übrig?

Prof. Martin Gotthardt (Nijmegen) hat Methoden entwickelt, um die Betazellen in der Bauchspeicheldrüse darzustellen. Erstaunlich: 5 von 10 untersuchten Menschen mit schon länger bestehendem Typ-1-Diabetes hatten Werte, die Befunden bei Gesunden vergleichbar waren. Handelt es sich hier um nicht mehr funktionierende Betazellen oder andere Zellen, die sich in Richtung Betazellen verändert haben? Wären wirklich häufig noch viele Betazellen vorhanden, könnte dies einen Ansatz für Forschungsarbeiten mit dem Ziel darstellen, diese Zellen irgendwie wieder zum Arbeiten zu bringen.

Corona-Virus und Diabetes

Prof. Catarina Limbert aus Portugal berichtete über die Erfahrungen mit Diabetes und COVID-19. Eine Untersuchung von 23.804 COVID-19-bezogenen Gestorbenen in England ergab, dass die Wahrscheinlichkeit, mit COVID-19 zu sterben, bei Menschen mit Typ-1-Diabetes 3,5-fach und bei Typ-2-Diabetes 2-fach erhöht war. Allerdings lag das durchschnittliche Sterbealter mit COVID-19 bei Typ-2-Diabetes bei 78 Jahren und bei Typ-1-Diabetes bei 72 Jahren.

Alles im Internet
Die EASD-Tagung ist im Internet verfügbar: Unter www.easd.org/virtualmeeting kann man die Vorträge anhören. Auch die wissenschaftlichen Poster sind dort zu finden. Der Zugang ist kostenfrei – als gemeinnützige Gesellschaft ist es das Ziel der EASD, möglichst vielen die neusten Erkenntnisse der Diabetesforschung zukommen zu lassen.

Es scheint, dass bei Typ-1-Diabetes nur Menschen im Alter über 50 Jahren mit längerer Krankheitsdauer (80  Prozent mit mehr als 15 Jahren Krankheitsdauer) und schlechterer Stoffwechseleinstellung ein höheres Risiko für schwere Verläufe haben. In den USA zählte bei jungen Menschen Diabetes nicht zu den Begleiterkrankungen mit häufigerem Auftreten von COVID-19. Das bedeutet, dass junge Menschen mit Diabetes nicht mehr Probleme mit dem Virus hatten als Menschen ohne Diabetes.

Lockdown: bessere Einstellung

Dr. Federico Boscari aus Padua beobachtete die Stoffwechselkontrolle bei Menschen mit Typ-1-Diabetes, die mit einem subkutanen Glukosesensor ausgestattet waren, vor dem Lockdown und währenddessen – also in der Zeit, als man dort das Haus kaum verlassen durfte. Bei den Patienten besserte sich die Stoffwechseleinstellung während des Lockdowns, die „Time in Range“, also die Zeit, während derer gute Glukosewerte bestanden, stieg von 54 auf 65 . Offensichtlich wurde die Zeit zu Hause genutzt, um sich intensiver mit dem Diabetes zu befassen.

Die Kongress-Organisatoren von M-Event stellten in jeder Session einen professionellen Betreuer.

Dr. Richard K. Bernstein, der als Erster Blutglukoseselbstmessungen propagierte, hat es schon vor Jahrzehnten an sich selbst beobachtet: Mit weniger Kohlenhydraten kam er besser zurecht. Daten aus Bern belegten dies jetzt bei 36 Patienten mit Typ-1-Diabetes, die ein Closed-Loop-System benutzten, also ein System, das den Glukosespiegel unter der Haut misst und entsprechend Insulin über eine Insulinpumpe verabreicht. Die Patienten, die weniger Kohlenhydrate aßen, zeigten bessere Ergebnisse. (Bernstein schon vor Jahrzehnten: Kleine Mengen machen kleine Probleme, große Mengen große.)

Abnehmen half, Ballaststoffe nicht

Dr. Flavia Tramontana aus Rom untersuchte, ob eine ballaststoffreichere Ernährung die HbA1c-Werte bei Menschen mit Typ-2-Diabetes bessert. Eine Gruppe wurde mit dem Ziel geschult, im Rahmen ihrer Ernährung 35 g Ballaststoffe pro Tag zu konsumieren, eine weitere erhielt ein Präparat mit 9,3 g Ballaststoffen pro Tag zusätzlich zur üblichen Ernährung. Viele Leitlinien empfehlen Menschen mit Diabetes, mehr Ballaststoffe zu essen.

Bei der Studie kam aber heraus, dass Ballaststoffe keine Wirkung auf das HbA1c hatten. Dagegen besserte eine Gewichtsabnahme die Werte deutlich. Ballaststoffe mögen aus vielen Gründen gesund sein, aber als Behandlung des Diabetes scheinen sie viel weniger zu helfen als eine Verminderung des Körperfetts.

Typ-1-Diabetes: stündlich bewegen

Dr. Anwar Alobaid (Leeds) zeigte an 10 Menschen mit Typ-1-Diabetes, dass es gut für Stoffwechselwerte ist, wenn man eine sitzende Tätigkeit alle 60 Minuten durch 5 Minuten Bewegung unterbricht. Also: 1-mal pro Stunde aufstehen – egal ob im Büro oder daheim! Überhaupt ist zu raten, nicht ununterbrochen vor dem Computer zu sitzen. Auch für die TeilnehmerInnen des 4 Tage dauernden virtuellen Kongresses war Gymnastik nötig – gut für Herz und Kreislauf und gegen Rückenschmerzen.

Pilotenlizenz mit Typ-1-Diabetes

In Irland, dem Vereinigten Königreich und Österreich dürfen Menschen, die als Pilot Typ-1-Diabetes bekommen haben, weiter ihren Beruf ausüben, wenn sie sich an ein striktes Protokoll zur Kontrolle des Diabetes halten. Dr. Gillian Garden (Universität Surrey) zeigte Daten von 49 Piloten mit Typ-1-Diabetes: Es kam in über 22.000 Flugstunden bei 9.189 Flügen zu keinerlei Problemen. Nur 14 von über 38.000 der alle 30 Minuten gemessenen Blutglukosewerte lagen während des Fluges unter 4,0 mmol/l (72 mg/dl). Das Überwachungsprotokoll ist auch für andere Tätigkeiten mit sehr hohem Risiko interessant.

Glukagon in die Nase

Beim EASD-Kongress 2015 erstaunte ein kanadisches Unternehmen mit einem Glukagon, das die Angehörigen bei einer schweren Unterzuckerung in die Nase sprühen können. Eli Lilly kaufte das Präparat, heute ist es auch bei uns verfügbar. Prof. Marga Giménez aus Barcelona zeigte, dass gespritztes und in die Nase gesprühtes Glukagon nicht nur gleich gut wirken, sondern dass es auch nicht zu unerwünscht hohen Blutglukosewerten kommt. Die Wirkung des Nasensprays trat ein wenig später ein (ca. 1 Minute). Giménez meinte, dies sei unbedeutend, weil die Zeit für die Vorbereitung der Injektion des gespritzten Glukagons nicht berücksichtigt wurde.

Neue Hoffnung für Nierenkranke

Überzeugend war auch eine Studie an 4 304 Patienten mit starker Einschränkung der Nierenleistung (Menschen mit und ohne Diabetes): Sie bekamen Dapagliflozin, ein Medikament aus der Gruppe der SGLT-2-Hemmer. Diese Medikamente wurden entwickelt, um den Blutzuckerspiegel zu senken. Jetzt zeigt sich, dass bei Nierenkranken eine günstige Wirkung eintritt, die aber mit der Wirkung auf den Blutzuckerspiegel nichts zu tun haben kann: Die Nierenleistung bessert sich auch bei Menschen ohne Diabetes.


Autor:innen:

Dr. med. Viktor Jörgens
Director EASD/EFSD (1987 bis 2015)
E-Mail: Dr-Viktor-Joergens@t-online.de

Dr. Monika Grüßer
European Association for the Study of Diabetes (EASD)
Managing Director and Chief Medical Officer
Rheindorfer Weg 3, 40591 Düsseldorf, Germany
E-Mail: secretariat@easd.org

Erschienen in: Diabetes-Journal, 2020; 69 (12) Seite 30-34

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