Seit 1922 – ein Rückblick auf 100 Jahre Kinderdiabetologie

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© Katrina Passierbek - Banting House NHSC
Seit 1922 – ein Rückblick auf 100 Jahre Kinderdiabetologie

Die Geschichte der Kinderdiabetologie begann kurz nach der Entdeckung des Insulins durch Frederick Banting, dessen Haus oben auf dem Bild zu sehen ist. Professor Danne greift wichtige Ereignisse heraus und erinnert an frühe Kinderdiabetologen, die dazu beigetragen haben, die Behandlung von Kindern mit Typ-1-Diabetes immer weiter zu verbessern.

Der Weltdiabetestag wird jedes Jahr am 14. November gefeiert, dem Geburtstag von Frederick Banting, Entdecker des Insulins. Am 14.11.1921, seinem 30. Geburtstag, wurden im „Journal Club“ der Universität in Toronto/Kanada die Ergebnisse seiner Studien vorgestellt, bei dem Hunde mit Diabetes durch einen Extrakt der Bauchspeicheldrüse am Leben gehalten werden konnten.

Die erste Injektion

Knapp zwei Monate später, am 11. Januar 1922, begann mit der ersten Insulininjektion für Leonard Thompson die Geschichte der Kinderdiabetologie. Der 13-jährige Junge wurde mit dem von Banting und dem Studenten Charles Best hergestellten Extrakt behandelt. Bereits 1919 war bei Leonard Diabetes diagnostiziert worden.

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Vor der Entdeckung des Insulins versuchte man, die schlechte Prognose des Diabetes mit Hilfe oft obskurer Diabetesdiäten zu verbessern. Um den Zucker niedrig zu halten, waren die Diabetesdiäten meist arm an Kalorien und Kohlenhydraten und extrem eintönig – und sie führten über gezielte Unterernährung zu Abmagerung und Tod. In dieser aussichtslosen Situation willigte Leonards Vater dem Behandlungsversuch mit der Gabe von 15 ml eines braunen Insulinextrakts durch den jungen Arzt Edward Jeffries ein.

Die erste Insulingabe: ein Misserfolg

Die Forscher beurteilten die erste Gabe jedoch als einen völligen Misserfolg, da der Blutzucker nur von 440 auf 320 mg/dl (bzw. von 24,4 auf 17,8 mmol/l) sank, Ketone vorhanden blieben und das lokale Ergebnis ein steriler Abszess im Gesäß war. Erst nachdem der Chemiker James Collip ein besseres Verfahren zur Reinigung des Extrakts gefunden hatte, kam der Erfolg. Die Gabe seines Extrakts am 23. und 24. Januar 1922 normalisierte Leonards Glukose und ließ die Ketone verschwinden.

Therapieziel: Gewichtszunahme

Die deutschsprachige Kinderdiabetologie begann schon bald nach der Entdeckung des Insulins. Richard Wagner (1887 - 1974) von der Universitätskinderklinik Wien veröffentlichte seine Erfahrungen unter dem Titel „Die Behandlung der kindlichen Zuckerharnruhr“. „Ruhr“ kommt aus dem Mittelhochdeutschen, bedeutet „Bauchfluss“ und ist üblicherweise die Bezeichnung für bakterielle Durchfallerkrankungen. Hier spielt es auf das häufige Wasserlassen der Kinder bei hohen Zuckerwerten an.

Wagner berichtet über die ambulante Behandlung von 25 Kindern. Die tägliche Insulinmenge beträgt 20 bis 80 Einheiten Insulin Wellcome, auf 2 bis 3 Injektionen am Tag verteilt. Die Injektionen geben sich die größeren Kinder selbst, die kleineren werden von den Eltern gespritzt. Der Erfolg der Behandlung äußert sich in einer Körpergewichtszunahme von bis zu 9 kg in einem Jahr. Während kurzfristiger fieberhafter Infekte werden zu Hause Obsttage eingeschaltet. Die Ziele der Behandlung gelten heute noch: „Jene Behandlungsart ist die optimale, bei der der Blutzucker möglichst nahe der Norm ist“, schrieb Wagner schon 1926.

Wie viele Injektionen für Kinder?

Der u. a. in Greifswald und Rostock tätige Kinderarzt Karl Stolte (1881 - 1951) gilt als Vater der modernen Kinderdiabetologie. Im Gegensatz zu Stolte praktizierte die Mehrzahl der führenden Diabetologen damals eine Therapieform, deren erklärtes Ziel es war, den Kindern häufige Insulininjektionen zu ersparen – es wurde also nur ein- bis zweimal am Tag Insulin gespritzt. Nach der Einführung verzögert freisetzender Insulinpräparate Mitte der 1930er Jahre war die Umsetzung dieser konventionellen Insulintherapie noch einfacher geworden.

Wie kontrovers manchmal die Diskussion über den richtigen Weg in der Behandlung von Kindern war, kann man aus Stoltes Ausspruch schließen: „Zuckerkranke Menschen darf man nicht behandeln wie Versuchstiere, die Tag für Tag eine auf das Gramm vorgeschriebene Nahrungsmenge erhalten.“ Aber noch viele Jahre lang waren zahlreiche Kinderärzte nicht Stoltes Meinung. So schrieb Heinz Hungerland (1905 - 1987) von der Universitätskinderklinik in Bonn 1968 in seiner Schrift „Die Betreuung des diabetischen Kindes“: „Wir müssen versuchen, die äußeren Lebensbedingungen des Kindes, Diät, Insulingaben, körperliche Betätigung, so konstant wie möglich zu halten.”

Multidisziplinäre Betreuung und Technik

Als Grundlage, wie wir die Kinderdiabetologie heute verstehen, schrieb Peter Hürter (*1935), Chefarzt im 1983 eröffneten Kinderkrankenhaus „Auf der Bult“ in seinem Lehrbuch „Diabetes bei Kindern und Jugendlichen“ (1977): „Die Eltern sind die Therapeuten ihrer Kinder.“ Später folgte die Forderung, dass Kinderdiabetologie eine psychosoziale Betreuung und Schulung der ganzen Familie beinhaltet. Aber auch die Prinzipien der automatischen Insulindosierung wurden am 28. bis 30. Januar 2012 in Hannover beim Dream-Camp gemeinsam mit Kollegen aus Israel und Slowenien zum ersten Mal außerhalb des Krankenhauses in einer Studie bei Kindern untersucht. Mit ähnlichen Rechenalgorithmen sind heute Hybrid-Closed-Loop-Pumpen ausgestattet.

Die Entwicklung der Kinderdiabetesbehandlung während der ersten 100 Jahre gibt einen Vorgeschmack auf den raschen Wandel der Therapieprinzipien, wie er auch in den kommenden Jahren zu erwarten ist.


Autor:

Prof. Dr. med. Thomas Danne
Kinderdiabetologe
Zentrum für Kinder- und Jugend­medizin „Auf der Bult“
Janusz-Korczak-Allee 12
30173 Hannover
E-Mail: danne@hka.de

Erschienen in: Diabetes-Eltern-Journal, 2021; 12 (4) Seite 6-7

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  • sveastine postete ein Update in der Gruppe In der Gruppe:Diabetes und Psyche vor 1 Woche

    hallo, ich hab schon ewig Diabetes, hab damit 4 Kinder bekommen und war beruflich unterschiedlich unterwegs, in der Pflege und Pädagogik. Seit ein paar Jahren funktioniert nichts mehr so wie ich das möchte: die Einstellung des Diabetes, der eigentlich immer gut lief, Sport klappt nicht mehr….ich bin frustriert und traurig..so kenne ich das nicht.. Geht es jemanden ähnlich? Bin 53…Viele grüße. Astrid

    • mayhe antwortete vor 1 Woche

      Liebe Astrid! Ich gerade 60 geworden und habe seit 30 Jahren Typ 1, aktuell mit Insulinpumpe und Sensor versorgt. Beim Diabetes läuft es dank des Loop gut, aber Psyche und Folgeerkrankung, Neuropathie des Darmes und fehlende Hypoerkennung, machen mir sehr zu schaffen. Bin jetzt als Ärztin schon berentet und versuche ebenfalls mein Leben wieder zu normalisieren. Kann gut verstehen, wie anstrengend es sein kann. Nicht aufgeben!! Liebe Grüße Heike

    • sveastine antwortete vor 1 Woche

      @mayhe: Hallo liebe Heike, danke für deine schnelle Antwort, das hat mich sehr gefreut. Nein aufgeben ist keine Option, aber es frustriert und kostet so viel Kraft. Ich hoffe dass ich beruflich noch einen passenden Platz finde. Und danke dass du dich gemeldet hast und von deiner Situation berichtet. Das ist ja auch nicht einfach. Und ich wünsche auch dir eine gewisse Stabilisierung…jetzt fühle ich mich mit dem ganzen nicht mehr so alleine. Was machst du denn sonst noch? Viele Grüße Astrid

    • Liebe Astrid! Ja, das Leben mit Diabetes ist echt anstrengend. Es kommt ja auf den normalen Wahnsinn noch oben drauf. Ich habe den Diabetes während der Facharztausbildung bekommen und ehrgeizig wie ich war auch damit beendet. Auch meinen Sohn, 26 Jahre, habe ich mit Diabetes bekommen. Hattest bei den Kindern auch schon Diabetes? Leider bin ich von Schicksalsschlägen dann nicht verschont geblieben. Was dann zu der heutigen Situation geführt hat. Ich habe durchgehalten bis nichts mehr ging. Jetzt backe ich ganz kleine Brötchen, freue mich wenn ich ganz normale kleine Dinge machen kann: Sport, Chor, Freunde treffen, usw. Ich würde mich zwar gerne aufgrund meiner Ausbildung mehr engagieren, dazu bin ich aber noch nicht fit genug. Was machst du so und wie alt sind deine Kinder? Bist du verheiratet? Liebe Grüße Heike

  • stephanie-haack postete ein Update vor 1 Woche, 1 Tag

    Wir freuen uns auf das heutige virtuelle Community-MeetUp mit euch. Um 19 Uhr geht’s los! 🙂

    Alle Infos hier: https://diabetes-anker.de/veranstaltung/virtuelles-diabetes-anker-community-meetup-im-november/

  • Hallo Zusammen,
    ich reise seit meinem 10. Lebensjahr mit Diabetesequipment…
    Auf dem Segelboot mit meinen Eltern, auf Klassenfahrt in den Harz direkt nach meiner Diagnose 1984. Gerne war ich wandern, am liebsten an der Küste. Bretagne, Alentejo, Andalusien, Norwegen. Zum Leidwesen meiner Eltern dann auch mal ganz alleine durch Schottland… Seit einigen Jahren bin ich nun als Sozia mit meinem Mann auf dem Motorrad unterwegs. Neben Zelt und Kocher nimmt das Diabeteszeug (+weiterer Medis) einen Großteil unseres Gepäcks ein. Ich mag Sensor und Pumpe- aber das Reisen war „früher“ leichter. Im wahrsten Sinne es Wortes. Da eben nicht so viel Platz für Klamotten bleibt, bleiben wir (noch) gerne in wärmeren Regionen. Wo ist bei fast 40 Grad Sonnenschein der kühlste Platz an einem Motorrad? Und was veranstalten Katheter und Schlauch da schon wieder unter dem Nierengurt? Nach einem Starkregen knallgefüllte, aufgeplatzte Friotaschen auf den Motorradkoffern, bei den Reisevorbereitungen zurechtgeschnippelte Katheterverpackungen, damit einer mehr in die Tupperdose passt… Oft muss ich über so etwas lachen- und bin dankbar, dass mir noch nichts wirklich bedrohliches passiert ist.
    Im September waren wir auf Sardinien und auf dem Rückweg länger in Südtirol. Ein letztes Mal mit meiner guten, alten Accu-Check Combo. Jetzt bin ich AID´lerin und die Katheter sind noch größer verpackt… 😉
    Mein „Diabetesding“ in diesem Urlaub war eine sehr, sehr sehr große Sammlung von Zuckertütchen. Solche, die es in fast jedem Café gibt. Die waren überall an mir… in jeder Tasche, in der Pumpentache, überall ein- und zwischengeklemmt. Und liegen noch heute zahlreich im Küchenschrank. Nicht, weil sie so besonders hübsch sind und / oder eine Sammlereigenschaft befriedigen… Ich habe beim Packen zu Hause auf einen Teil der üblichen Traubenzuckerration verzichtet, da ich nach jedem Urlaub ausreichend davon wieder mit nach Hause schleppe.
    Da wollte ich wohl dann bei jeder sich bietenden Gelegenheit sicherstellen, bei Unterzuckerungen trotzdem ausreichend „Stoff“ dabei zu haben…
    Ich freue mich auf den nächsten Urlaub und bin gespannt, was für eine Marotte dann vielleicht entsteht. Und, ob ich vom AID wieder in den „Basalratenhandbetrieb“ schalte.
    Die Marotte allerdings kündigt sich schon an. Da ich ja nun das Handy dringend benötige, habe ich bereits eine Sicherungsleine an Handy und Innentasche der Jacke befestigt. So kann ich das Handy zum Fotografieren oder für das Diabetesmanagement heraus nehmen -ohne dass es die Alpen hinunter- oder ins Wasser fällt. Diabetesbedingte Paranoia. 😉
    Wenn ´s weiter nichts ist… .
    Ich würde übrigens lieber ohne Erkrankungen reisen. Aber es hilft ja nichts… und mit Neugierde, Selbstverantwortung und ein bisschen Mut klappt es auch so.
    Lieben Gruß und viel Vorfreude auf die nächsten Urlaube
    Nina

    • Hallo Nina,

      als unser Kind noch kleiner war, fand ich es schon immer spannend für 2 Typ1 Dias alles zusammen zu packen,alles kam in eine große Klappbox.
      Und dann stand man am Auto schaute in den Kofferraum und dachte sich oki wohin mit dem Zuckermonster,es war also Tetris spielen im Auto ;). Für die Fahrten packen wir uns genug Gummibärchen ein und der Rest wird zur Not dann vor Ort gehohlt.
      Unsere letzte weite Fahrt war bis nach Venedig

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