Steffis Notizbuch – Psyche, Sucht und Diabetes

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Steffis Notizbuch – Psyche, Sucht und Diabetes

[Dieser Beitrag enthält unbeauftragte Marken- und Produktnennung.]

Ich sitze heulend auf dem Wohnzimmerteppich. Endlich spüre ich etwas. Verletzlichkeit, Schmerz, Verzweiflung. Will ganz fest gehalten werden, damit es mich nicht zerreißt, damit ich spüre, dass es mich gibt, dass ich hier bin, dass ich lebe. Ich bin süchtig. Süchtig nach dem Gefühl der Lebendigkeit. Süchtig nach der Süße des Lebens. (Weil ich mit 1 Jahr die Diagnose Typ-1-Diabetes bekommen habe?)

Christian Schubert ist Arzt, Psychotherapeut und Leiter des Labors für Psychoneuroimmunologie an der Medizinischen Klinik der Uni Innsbruck. In seinem Buch „Was uns krank macht – was uns heilt“ schreibt er, dass der Hauptauslöser für chronische Krankheiten wie Diabetes, Krebs, Herz- und Autoimmunkrankheiten meist Stress sei. Besonders Dauerstress. Geradezu schicksalhaft wirke auch traumatischer Stress in der Kindheit.

Es wird gerade so viel geforscht, was technische Entwicklungen in der Gesundheitsbranche angeht. Dazu kommen die Digitalisierung, Automatisierung, künstliche Intelligenz.

Quelle: Stefanie Hertel

Doch wo bleibt die emotionale Intelligenz?

Wieso hat das Wissen um Diabetes und psychische Erkrankungen in der Breite, bei Diabetologen, Diabetesberatern und in Praxen noch keinen Einzug gehalten?

Emotionale Weiterentwicklung als Notwendigkeit gegen psychische Erkrankungen und Suchtverhalten

Und was ist mit dem drastischen Anstieg psychischer Erkrankungen?* Ich glaube, dass der Mensch mit Hilfe seines Verstandes gerade immer mehr entwickelt und (er)schafft. Doch die emotionale Weiterentwicklung bleibt dabei oftmals auf der Strecke. Was das aus meiner Sicht konkret für den Einzelnen bedeutet? Findet keine emotionale Entwicklung statt, spüre ich mich und meine Emotionen nicht und kenne auch meine Bedürfnisse nicht mehr. Ich funktioniere nur noch. Über kurz oder lang bahnen sich die Emotionen und Bedürfnisse dann mit Gewalt ihren Weg an die Oberfläche, da sie zu lange unterdrückt und verdrängt worden sind. Und dann melden sie sich lautstark zurück. Als Burnout, Depression, Ess- und Angststörungen, Intoleranzen, Nikotin-/Koffein-/Alkohol-/Drogen-/Sport-/Beziehungs-/Sex-/Medien/Konsum- oder Arbeitssucht.

Quelle: Stefanie Hertel

Das eigentliche Problem erkennen

Ich frage mich: Warum essen wir immer wieder zu viel? Suchen Halt und verlieren uns in Beziehungen? Öffnen Instagram, wenn wir eigentlich jemanden brauchen, der uns sagt, dass wir bedingungslos geliebt werden und in Sicherheit sind, komme, was wolle? Ich denke: Wir sehen das eigentliche Problem nicht. Wollen es vielleicht nicht sehen. Kein Essen und kein Partner der Welt können das Loch füllen, das wir verzweifelt versuchen zu stopfen. Oft sind es alte Gefühle und Bedürfnisse, die wir auf Situationen unseres jetzigen Lebens projizieren: das Bedürfnis nach Sicherheit, nach bedingungsloser Liebe, nach Gehaltenwerden. Das Gefühl, nicht genug zu sein, nicht dazuzugehören, die Angst zu versagen. Die Liste ist endlos. Machen wir uns bewusst, dass es sich nicht um die Realität handelt, sondern lediglich um unsere Gedanken und subjektive Gefühle, können wir meiner Meinung nach aus dem Teufelskreis ausbrechen.

Der Weg zurück zum Spüren der eigenen Emotionen und Bedürfnisse ist mitunter lang und steinig. Manchmal ist es nach meiner Erfahrung jedoch gerade dieser Weg, der hilft, von Suchtverhalten zu genesen. Und: Man muss den Weg nicht alleine gehen, sondern darf Hilfe von außen in Anspruch nehmen (Liste am Ende des Artikels).

Quelle: Stefanie Hertel

Typ-1-Diabetes und Ess-Brech-Sucht (Bulimie)

Die letzten Tage waren stressig. Es war viel los. Geburtstag, Sommerfest, Verabredungen, Termine. Statt runterzukommen und mir Ruhe zu gönnen, schalte ich hoch und gebe noch mehr Gas. Ich will mich lebendig fühlen, das Leben spüren. Ich kann die Geschwindigkeit nicht halten, schlingere und fliege mit einem Knall aus der Spur. Es kommt zum Rückfall. Rückfall heißt bei mir: (Fr)Essanfall. Um die Lebendigkeit noch einmal voll auszukosten, bevor sich der Perfektionismus zurückmeldet und ich den Druck loswerden will. Also kotze ich. Alles heimlich. Damit die Nachbarn nichts mitbekommen. Schließe alle Türen und Fenster, schalte die laute Lüftung im Bad ein. Drehe den Wasserhahn auf und erbrochenes Eis, Schokolade und Käsestückchen werden aus dem Abfluss und meinem Gedächtnis gespült. Als ob nichts passiert ist. Nur ein schaler Nachgeschmack bleibt.

Quelle: Stefanie Hertel

Die Maske fallen lassen

Die Dunkelziffer von Typ-1-Diabetikern mit einer Ess- oder anderen psychischen Störung ist vermutlich utopisch hoch. Ich habe selbst 10 Jahre gebraucht, mir einzugestehen und laut aussprechen zu können, dass ich esssüchtig bin. Indem ich diese Worte schreibe, öffne ich mich und mache mich verletzlich und angreifbar.

Lasse die Maske der Perfektion fallen und zeige mich mit allem, was ist. Weil ich daran glaube, dass Nähe und Verbundenheit nur entstehen können, wenn wir uns ohne Maske zeigen. Weil ich glaube, dass wir uns Nähe und bedingungslose Liebe wünschen und Angst davor haben, es uns einzugestehen und auszusprechen. Weil ich daran glaube, dass wir alte Gefühle und Geschichten, die uns nicht mehr dienen, hinter uns lassen und mutig sein müssen. Mutig genug, um uns selbst so anzunehmen und bedingungslos zu lieben, wie wir jetzt gerade sind. Mutig genug, um uns unsere Gefühle und Bedürfnisse einzugestehen und sie mitzuteilen. Mutig genug, um unser Gegenüber unvoreingenommen anzusehen und zu begreifen, dass diese Person im Inneren genauso ist wie wir: mit Bedürfnissen und Ängsten. Mit Scham und Geheimnissen, die gehütet werden.

Wenn wir diese Maske ablegen, entsteht Echtheit, entsteht Gutes, entsteht Liebe.

Quelle: Stefanie Hertel

Anhang: Hilfe von außen – persönliche Empfehlungen 

Bücher:

  • „Selbstliebe. Weg der inneren Heilung“, von Michael Tischinger
  • „Suchtfrei. Die Illusion durchschauen“, von Jan Guertz
  • „Addicted to love. The Path to self-acceptance and happiness in realtionships“, von Jan Guertz
  • „Die Frau, die im Mondlicht aß. Essstörungen überwinden durch die Weisheit uralter Märchen und Mythen“, von Dr. Anita Johnston
  • „Komm, ich erzähl die eine Geschichte“, von Jorge Bucay

Apps:

  • Meditationen von Lou Redmond oder David Gandelman auf der App Insight Timer

Austausch mit Gleichgesinnten:

  • Austausch in anonymen Treffen vor Ort, z.B. Emotions Anonymous, Narcotics Anonymous, Overeaters Anonymous

Therapeutische Begleitung:

  • Therapeuten vor Ort kontaktieren
  • Adula Klinik: Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie mit ganzheitlichem Ansatz und therapeutischer Gemeinschaft

*psyGA, „Daten und Fakten“, https://www.psyga.info/psychische-gesundheit/daten-fakten/, 11.8.2019

Quelle: Stefanie Hertel

Mehr zu Steffis Geschichte erfahrt ihr zum Beispiel in ihrem Artikel Neues Jahr, neues Glück & Zeit für Vergebung.

Quelle: Stefanie Hertel

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  • hallo, ich hab schon ewig Diabetes, hab damit 4 Kinder bekommen und war beruflich unterschiedlich unterwegs, in der Pflege und Pädagogik. Seit ein paar Jahren funktioniert nichts mehr so wie ich das möchte: die Einstellung des Diabetes, der eigentlich immer gut lief, Sport klappt nicht mehr….ich bin frustriert und traurig..so kenne ich das nicht.. Geht es jemanden ähnlich? Bin 53…Viele grüße. Astrid

    • Liebe Astrid! Ich gerade 60 geworden und habe seit 30 Jahren Typ 1, aktuell mit Insulinpumpe und Sensor versorgt. Beim Diabetes läuft es dank des Loop gut, aber Psyche und Folgeerkrankung, Neuropathie des Darmes und fehlende Hypoerkennung, machen mir sehr zu schaffen. Bin jetzt als Ärztin schon berentet und versuche ebenfalls mein Leben wieder zu normalisieren. Kann gut verstehen, wie anstrengend es sein kann. Nicht aufgeben!! Liebe Grüße Heike

    • @mayhe: Hallo liebe Heike, danke für deine schnelle Antwort, das hat mich sehr gefreut. Nein aufgeben ist keine Option, aber es frustriert und kostet so viel Kraft. Ich hoffe dass ich beruflich noch einen passenden Platz finde. Und danke dass du dich gemeldet hast und von deiner Situation berichtet. Das ist ja auch nicht einfach. Und ich wünsche auch dir eine gewisse Stabilisierung…jetzt fühle ich mich mit dem ganzen nicht mehr so alleine. Was machst du denn sonst noch? Viele Grüße Astrid

    • Liebe Astrid! Ja, das Leben mit Diabetes ist echt anstrengend. Es kommt ja auf den normalen Wahnsinn noch oben drauf. Ich habe den Diabetes während der Facharztausbildung bekommen und ehrgeizig wie ich war auch damit beendet. Auch meinen Sohn, 26 Jahre, habe ich mit Diabetes bekommen. Hattest bei den Kindern auch schon Diabetes? Leider bin ich von Schicksalsschlägen dann nicht verschont geblieben. Was dann zu der heutigen Situation geführt hat. Ich habe durchgehalten bis nichts mehr ging. Jetzt backe ich ganz kleine Brötchen, freue mich wenn ich ganz normale kleine Dinge machen kann: Sport, Chor, Freunde treffen, usw. Ich würde mich zwar gerne aufgrund meiner Ausbildung mehr engagieren, dazu bin ich aber noch nicht fit genug. Was machst du so und wie alt sind deine Kinder? Bist du verheiratet? Liebe Grüße Heike

  • Wir freuen uns auf das heutige virtuelle Community-MeetUp mit euch. Um 19 Uhr geht’s los! 🙂

    Alle Infos hier: https://diabetes-anker.de/veranstaltung/virtuelles-diabetes-anker-community-meetup-im-november/

  • insulina postete ein Update in der Gruppe In der Gruppe:Reisen mit Diabetes vor 3 Wochen

    Hallo Zusammen,
    ich reise seit meinem 10. Lebensjahr mit Diabetesequipment…
    Auf dem Segelboot mit meinen Eltern, auf Klassenfahrt in den Harz direkt nach meiner Diagnose 1984. Gerne war ich wandern, am liebsten an der Küste. Bretagne, Alentejo, Andalusien, Norwegen. Zum Leidwesen meiner Eltern dann auch mal ganz alleine durch Schottland… Seit einigen Jahren bin ich nun als Sozia mit meinem Mann auf dem Motorrad unterwegs. Neben Zelt und Kocher nimmt das Diabeteszeug (+weiterer Medis) einen Großteil unseres Gepäcks ein. Ich mag Sensor und Pumpe- aber das Reisen war „früher“ leichter. Im wahrsten Sinne es Wortes. Da eben nicht so viel Platz für Klamotten bleibt, bleiben wir (noch) gerne in wärmeren Regionen. Wo ist bei fast 40 Grad Sonnenschein der kühlste Platz an einem Motorrad? Und was veranstalten Katheter und Schlauch da schon wieder unter dem Nierengurt? Nach einem Starkregen knallgefüllte, aufgeplatzte Friotaschen auf den Motorradkoffern, bei den Reisevorbereitungen zurechtgeschnippelte Katheterverpackungen, damit einer mehr in die Tupperdose passt… Oft muss ich über so etwas lachen- und bin dankbar, dass mir noch nichts wirklich bedrohliches passiert ist.
    Im September waren wir auf Sardinien und auf dem Rückweg länger in Südtirol. Ein letztes Mal mit meiner guten, alten Accu-Check Combo. Jetzt bin ich AID´lerin und die Katheter sind noch größer verpackt… 😉
    Mein „Diabetesding“ in diesem Urlaub war eine sehr, sehr sehr große Sammlung von Zuckertütchen. Solche, die es in fast jedem Café gibt. Die waren überall an mir… in jeder Tasche, in der Pumpentache, überall ein- und zwischengeklemmt. Und liegen noch heute zahlreich im Küchenschrank. Nicht, weil sie so besonders hübsch sind und / oder eine Sammlereigenschaft befriedigen… Ich habe beim Packen zu Hause auf einen Teil der üblichen Traubenzuckerration verzichtet, da ich nach jedem Urlaub ausreichend davon wieder mit nach Hause schleppe.
    Da wollte ich wohl dann bei jeder sich bietenden Gelegenheit sicherstellen, bei Unterzuckerungen trotzdem ausreichend „Stoff“ dabei zu haben…
    Ich freue mich auf den nächsten Urlaub und bin gespannt, was für eine Marotte dann vielleicht entsteht. Und, ob ich vom AID wieder in den „Basalratenhandbetrieb“ schalte.
    Die Marotte allerdings kündigt sich schon an. Da ich ja nun das Handy dringend benötige, habe ich bereits eine Sicherungsleine an Handy und Innentasche der Jacke befestigt. So kann ich das Handy zum Fotografieren oder für das Diabetesmanagement heraus nehmen -ohne dass es die Alpen hinunter- oder ins Wasser fällt. Diabetesbedingte Paranoia. 😉
    Wenn ´s weiter nichts ist… .
    Ich würde übrigens lieber ohne Erkrankungen reisen. Aber es hilft ja nichts… und mit Neugierde, Selbstverantwortung und ein bisschen Mut klappt es auch so.
    Lieben Gruß und viel Vorfreude auf die nächsten Urlaube
    Nina

    • Hallo Nina,

      als unser Kind noch kleiner war, fand ich es schon immer spannend für 2 Typ1 Dias alles zusammen zu packen,alles kam in eine große Klappbox.
      Und dann stand man am Auto schaute in den Kofferraum und dachte sich oki wohin mit dem Zuckermonster,es war also Tetris spielen im Auto ;). Für die Fahrten packen wir uns genug Gummibärchen ein und der Rest wird zur Not dann vor Ort gehohlt.
      Unsere letzte weite Fahrt war bis nach Venedig

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