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Ich sitze heulend auf dem Wohnzimmerteppich. Endlich spüre ich etwas. Verletzlichkeit, Schmerz, Verzweiflung. Will ganz fest gehalten werden, damit es mich nicht zerreißt, damit ich spüre, dass es mich gibt, dass ich hier bin, dass ich lebe. Ich bin süchtig. Süchtig nach dem Gefühl der Lebendigkeit. Süchtig nach der Süße des Lebens. (Weil ich mit 1 Jahr die Diagnose Typ-1-Diabetes bekommen habe?)
Christian Schubert ist Arzt, Psychotherapeut und Leiter des Labors für Psychoneuroimmunologie an der Medizinischen Klinik der Uni Innsbruck. In seinem Buch „Was uns krank macht – was uns heilt“ schreibt er, dass der Hauptauslöser für chronische Krankheiten wie Diabetes, Krebs, Herz- und Autoimmunkrankheiten meist Stress sei. Besonders Dauerstress. Geradezu schicksalhaft wirke auch traumatischer Stress in der Kindheit.
Es wird gerade so viel geforscht, was technische Entwicklungen in der Gesundheitsbranche angeht. Dazu kommen die Digitalisierung, Automatisierung, künstliche Intelligenz.
Wieso hat das Wissen um Diabetes und psychische Erkrankungen in der Breite, bei Diabetologen, Diabetesberatern und in Praxen noch keinen Einzug gehalten?
Und was ist mit dem drastischen Anstieg psychischer Erkrankungen?* Ich glaube, dass der Mensch mit Hilfe seines Verstandes gerade immer mehr entwickelt und (er)schafft. Doch die emotionale Weiterentwicklung bleibt dabei oftmals auf der Strecke. Was das aus meiner Sicht konkret für den Einzelnen bedeutet? Findet keine emotionale Entwicklung statt, spüre ich mich und meine Emotionen nicht und kenne auch meine Bedürfnisse nicht mehr. Ich funktioniere nur noch. Über kurz oder lang bahnen sich die Emotionen und Bedürfnisse dann mit Gewalt ihren Weg an die Oberfläche, da sie zu lange unterdrückt und verdrängt worden sind. Und dann melden sie sich lautstark zurück. Als Burnout, Depression, Ess- und Angststörungen, Intoleranzen, Nikotin-/Koffein-/Alkohol-/Drogen-/Sport-/Beziehungs-/Sex-/Medien/Konsum- oder Arbeitssucht.
Ich frage mich: Warum essen wir immer wieder zu viel? Suchen Halt und verlieren uns in Beziehungen? Öffnen Instagram, wenn wir eigentlich jemanden brauchen, der uns sagt, dass wir bedingungslos geliebt werden und in Sicherheit sind, komme, was wolle? Ich denke: Wir sehen das eigentliche Problem nicht. Wollen es vielleicht nicht sehen. Kein Essen und kein Partner der Welt können das Loch füllen, das wir verzweifelt versuchen zu stopfen. Oft sind es alte Gefühle und Bedürfnisse, die wir auf Situationen unseres jetzigen Lebens projizieren: das Bedürfnis nach Sicherheit, nach bedingungsloser Liebe, nach Gehaltenwerden. Das Gefühl, nicht genug zu sein, nicht dazuzugehören, die Angst zu versagen. Die Liste ist endlos. Machen wir uns bewusst, dass es sich nicht um die Realität handelt, sondern lediglich um unsere Gedanken und subjektive Gefühle, können wir meiner Meinung nach aus dem Teufelskreis ausbrechen.
Der Weg zurück zum Spüren der eigenen Emotionen und Bedürfnisse ist mitunter lang und steinig. Manchmal ist es nach meiner Erfahrung jedoch gerade dieser Weg, der hilft, von Suchtverhalten zu genesen. Und: Man muss den Weg nicht alleine gehen, sondern darf Hilfe von außen in Anspruch nehmen (Liste am Ende des Artikels).
Die letzten Tage waren stressig. Es war viel los. Geburtstag, Sommerfest, Verabredungen, Termine. Statt runterzukommen und mir Ruhe zu gönnen, schalte ich hoch und gebe noch mehr Gas. Ich will mich lebendig fühlen, das Leben spüren. Ich kann die Geschwindigkeit nicht halten, schlingere und fliege mit einem Knall aus der Spur. Es kommt zum Rückfall. Rückfall heißt bei mir: (Fr)Essanfall. Um die Lebendigkeit noch einmal voll auszukosten, bevor sich der Perfektionismus zurückmeldet und ich den Druck loswerden will. Also kotze ich. Alles heimlich. Damit die Nachbarn nichts mitbekommen. Schließe alle Türen und Fenster, schalte die laute Lüftung im Bad ein. Drehe den Wasserhahn auf und erbrochenes Eis, Schokolade und Käsestückchen werden aus dem Abfluss und meinem Gedächtnis gespült. Als ob nichts passiert ist. Nur ein schaler Nachgeschmack bleibt.
Die Dunkelziffer von Typ-1-Diabetikern mit einer Ess- oder anderen psychischen Störung ist vermutlich utopisch hoch. Ich habe selbst 10 Jahre gebraucht, mir einzugestehen und laut aussprechen zu können, dass ich esssüchtig bin. Indem ich diese Worte schreibe, öffne ich mich und mache mich verletzlich und angreifbar.
Lasse die Maske der Perfektion fallen und zeige mich mit allem, was ist. Weil ich daran glaube, dass Nähe und Verbundenheit nur entstehen können, wenn wir uns ohne Maske zeigen. Weil ich glaube, dass wir uns Nähe und bedingungslose Liebe wünschen und Angst davor haben, es uns einzugestehen und auszusprechen. Weil ich daran glaube, dass wir alte Gefühle und Geschichten, die uns nicht mehr dienen, hinter uns lassen und mutig sein müssen. Mutig genug, um uns selbst so anzunehmen und bedingungslos zu lieben, wie wir jetzt gerade sind. Mutig genug, um uns unsere Gefühle und Bedürfnisse einzugestehen und sie mitzuteilen. Mutig genug, um unser Gegenüber unvoreingenommen anzusehen und zu begreifen, dass diese Person im Inneren genauso ist wie wir: mit Bedürfnissen und Ängsten. Mit Scham und Geheimnissen, die gehütet werden.
Wenn wir diese Maske ablegen, entsteht Echtheit, entsteht Gutes, entsteht Liebe.
Bücher:
Apps:
Austausch mit Gleichgesinnten:
Therapeutische Begleitung:
*psyGA, „Daten und Fakten“, https://www.psyga.info/psychische-gesundheit/daten-fakten/, 11.8.2019
Mehr zu Steffis Geschichte erfahrt ihr zum Beispiel in ihrem Artikel Neues Jahr, neues Glück & Zeit für Vergebung.
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