- Leben mit Diabetes
Diabetes geschickt managen: Durchs Leben ohne Sehen
7 Minuten

Michael Stankewitz ist ein Mensch, der mit beiden Beinen fest im Leben steht. Von seinem Blindsein lässt er sich dabei nicht bremsen. Und auch seinen Typ-2-Diabetes managt er problemlos.
Den Diabetes-Anker zum Hören abonnieren? Das ist ideal, wenn das Sehen eingeschränkt ist – wie bei Michael Stankewitz. Der 67-Jährige erblindete kurz nach seiner Geburt, als er Ende der 1950er-Jahre als frühgeborenes Baby in den Brutkasten kam. Er ist glücklich, dass er schon seit vielen Jahren die Möglichkeit hat, die Inhalte der Zeitschrift anzuhören: „Für mich als Blinder ist es natürlich wichtig, mich über eine Krankheit, die ich habe, zu informieren.“ Angefangen hat er dabei mit dem Hören auf Kompaktkassetten.
Michael Stankewitz kam nach sieben Monaten auf die Welt. Durch die Zeit im Brutkasten verlor er sein Augenlicht. Trotz des fehlenden Sehens liebt Michael es, Uhren auseinanderzunehmen und wieder zusammenzusetzen, außerdem ist er Funk-Amateur. Gern würde er mehr mit dem Rad fahren, zu zweit auf dem Tandem. Im Alltag wünscht sich Michael mehr Barrierefreiheit. Das betrifft nicht nur den Diabetes, sondern vor allem den öffentlichen Raum und zum Beispiel das Einkaufen im Supermarkt. Bezüglich seines Diabetes hat er viel von Gesprächen mit einem Freund profitiert.

„Naja, so schlimm ist das ja nicht …“
Sein Typ-2-Diabetes zeigte sich Anfang der 1990er-Jahre. Bei einem Check-up bei einem neuen Hausarzt stellte dieser fest, dass der HbA1c-Wert, also der Langzeit-Blutzucker, zu hoch war. Für einen Diabetes typische Beschwerden hatte Michael vorher nicht bemerkt, nur: „Ich habe damals einiges mehr mit mir rumgetragen als heute.“ So startete er mit einer Therapie mit Tabletten, um die Blutzuckerwerte wieder zu normalisieren.
Einmal in der Woche ging er nüchtern zum Hausarzt, um seinen Blutzucker messen zu lassen. Im Rückblick sieht er etwas kritisch auf diese Phase zurück: „Damals hat man mir gesagt: ‚Naja, so schlimm ist das ja nicht ausgeprägt bei Ihnen. Wenn wir immer mit einem Wert um 150 (mg/dl bzw. 8,3 mmol/l; Anm. d. Red.) oder so rauskommen, dann ist alles in Ordnung.‘ Damals wusste ich über Diabetes nicht so viel …“ Aber er hatte einen Freund mit Diabetes, der eine Therapie mit Insulin durchführte. „Ich habe von ihm einiges gelernt.“
Ungewöhnlicher Start in die Insulintherapie
Etwa zehn Jahre später wechselte Michael die Praxis. Er ging zu einem hausärztlich tätigen Internisten. „Der hat mir irgendwann gesagt: ‚Ihr Zucker und Ihr HbA1c, das geht eigentlich immer höher. Wir müssen uns langsam Gedanken machen, was wir tun, und wir werden möglicherweise um Insulin nicht herumkommen.‘“, erinnert er sich. Dass die Therapie intensiviert werden musste, hatte Michael vorher schon selbst festgestellt: „Mein erstes Blutzucker-Messgerät hatte ich schon vorher. Da habe ich auch schon immer gemerkt: So toll ist das nicht.“
Die Therapie mit Insulin begann eher ungewöhnlich: mit einem aus kurz und lang wirkendem Insulin bestehenden Mischinsulin und einem nur lang wirkenden Insulin. „Der nächste ungewöhnliche Schritt war, dass der Hausarzt sagte, das war ja Anfang der 2000er: ‚Wenn ich Sie jetzt zu irgendwelchen Schulungen schicke, was sollen Sie da? Das, was die Ihnen da erzählen, ist sowieso für Sie nicht vernünftig aufbereitet, das heißt, blindentechnisch irgendwie zugänglich.‘ Ich habe mich natürlich blind darauf verlassen und ein bisschen Wahres war ja auch dran.“
Großes Vertrauen durch neuen Arzt
Sein Hausarzt hatte aber großes Vertrauen in seine Fähigkeiten: „Er hat zu mir gesagt: ‚Ich schätze Sie so ein, dass Sie sehr gut selber herausfinden können, was Ihnen vom Essen her gut bekommt und was nicht. Ihren Blutzucker können Sie messen und daran können Sie alles festmachen.‘” Mit der Berechnung der Kohlenhydrate hat er sich deshalb auch nie beschäftigt. „Vieles oder sogar alles, was ich heute weiß, habe ich im Großen und Ganzen selber rausgefunden. Natürlich habe ich auch durch das Diabetes-Journal und andere Diabetiker einiges mitgekriegt. Ich habe auch Schulungen mitgemacht, wenn ich zur Kur gefahren bin oder so. Aber im Großen und Ganzen bin ich mit der Methode meines Hausarztes sehr gut gefahren.“
Schon als Kind sehr wissbegierig
Das Blindsein hat Michael selten gebremst: „Ich habe mir erzählen lassen, ich war schon immer sehr technisch interessiert. Ich bin ein sehr großer Uhren-Fan zum Beispiel. Ich habe jede Uhr, die ich kriegen konnte, auseinandergenommen. Manche habe ich auch wieder zum Laufen gekriegt, warum auch immer“, berichtet er lachend. Er durfte auch sehr viel erkunden: „Mir war kein Graben zu tief, kein Baum zu hoch und keine Böschung zu steil. Ich kann deswegen, denke ich, heute sagen, dass ich dadurch, dass ich zwar sicherlich behütet oder verantwortungsbewusst erzogen wurde, aber auch diesen Freiraum hatte, heute so leben kann, wie ich lebe.“
Sprechende und knackende Hilfsmittel
Er lebt allein in Hannover und managt seinen Alltag und seinen Diabetes selbst. Zu Beginn hatte er ein Messgerät, das die Blutzuckerwerte ansagte. Später gab es ein anderes, das durch verschiedene Pieptöne den Wert mitteilte. „Dann kam endlich FreeStyle Libre auf den Markt, was ich heute nur noch nutze“, ist er glücklich über das System zum kontinuierlichen Glukose-Messen (CGM). Die Werte bekommt er über sein Smartphone angesagt. 84 Prozent seiner Werte liegen aktuell im Zielbereich zwischen 70 und 180 mg/dl (3,9 und 10,0 mmol/l). Seine Diabetologin, die ihn inzwischen betreut, ist sehr zufrieden.
Seine Insulintherapie hat sich mit der Zeit auch verändert. Heute führt er eine intensivierte Insulintherapie (ICT) durch mit einem lang und einem kurzwirkenden Insulin. Die jeweilige Dosis stellt er über das Knacken ein, das die Insulinpens beim Drehen des Dosierknopfs pro Einheit von sich geben. Gedanken über eine Therapie mit Insulinpumpe hat er sich auch schon gemacht, aber: „Zum Ersten gibt es keine Pumpe, die für Blinde vernünftig bedienbar ist. Und zum Zweiten: Für mich stellt das kein Problem dar, sich mal eben vorm Essen Insulin zu spritzen.“
Auch in der Öffentlichkeit ist das für ihn selbstverständlich. „Andere Leute müssen nach dem Essen unheimlich große Tabletten nehmen. Da gibt es auch Leute, die eventuell sagen könnten: ‚Oh, wenn ich die Dinger schon sehe, ich könnte die gar nicht runterkriegen. Wie machst du das bloß?‘“ Einer seiner beiden Schwestern, die es nicht so gut ertragen kann, wenn er sich spritzt, gab er den Tipp: „Guck doch nicht extra noch hin und steigere dich da rein. Guck doch weg, du weißt doch, dass ich spritzen muss.“ Er ergänzt: „Sie hat schlimmer gelitten als ich – und ich habe ja gar nicht gelitten.“
Diabetes-Anker zum Hören
Den Diabetes-Anker kann man, wenn man Einschränkungen beim Sehen oder beim Lesen hat, auf CD als Daisy/MP3-Hörzeitschrift abonnieren: WBH Westdeutsche Bibliothek der Hörmedien für blinde-, seh- und lesebehinderte Menschen e.V., Telefon: 02 51/71 99 01, Internet: www.wbh-online.de
Erfahrungen verfeinern Therapie
Sein Essen wiegt er nicht ab, sondern verfeinert seine Erfahrungen mit seinem Essen inzwischen dadurch, dass er mit dem CGM-System seine Glukosewerte engermaschig bekommt. „Ich habe ja auch die Sachen, die ich überwiegend esse. Natürlich kriege ich da heute viel besser mit, was man auch mal essen kann, ohne dass man es gleich mit berücksichtigen muss.“
Er genießt auch seine Freiheiten, die heute größer sind als zu Beginn seines Diabetes. „Es ist ja nicht mehr so wie früher, dass es hieß, du darfst dies nicht und du darfst das nicht und wenn, nur kleine Mengen und … Das hat man ja heute alles selber in der Hand. Diabetes ist ja nicht mehr gleich Verzicht. Und ich kann durch die Insulindosis ja gegensteuern.“
Mit seinem Diabetes verbindet ihn eine „friedliche Koexistenz“. „Ich bezeichne meinen Diabetes immer als meinen ‚römischen Freund‘. Hört sich auch schön geschichtsträchtig an: Diabetes mellitus“, sagt er schmunzelnd. „Ich kann ja nichts dagegen machen, dass ich Diabetes habe. Um friedlich zu koexistieren, habe ich auch das Mittel der Abschreckung in der Hand, das Insulin. Es ist natürlich ein Vergleich, der hinkt, aber für mich passt es irgendwie. Wenn ich in dem Bild bleibe und sage, ‚ich provoziere dich nicht jeden Tag‘, dann kommt man gut miteinander aus.“
Ausgebildet in der Blindenschule
Der heutige Ruheständler hatte beruflich immer sitzende Tätigkeiten, „das ist für den Blinden aber auch nicht untypisch“. Er war im Büro, arbeitete in Telefonzentralen und Call-Centern. „Ich habe auch im Schreibbüro der Sparkasse Hannover gearbeitet.“ Die Fähigkeiten dafür hatte er in der Ausbildung in der Blindenschule in Hannover erworben, wo er geboren und aufgewachsen war. Später folgte aufgrund von Umstrukturierungs-Maßnahmen bei einem seiner Arbeitgeber die Fortbildung zum Call-Center-Agenten.
Heute viel Zeit für seine Hobbys
Nun hat er auch viel Zeit für sein Hobby als Funk-Amateur. Außerdem hört er sehr gern Hörbücher und Musik. „Ich hätte eigentlich auch gern einen Hund.“ Aber er hat Sorge, ihn durch einen möglicherweise notfallmäßigen Krankenhausaufenthalt, wie es ihm unabhängig vom Diabetes vor nicht allzu langer Zeit passiert ist, nicht versorgen zu können. „Inzwischen bin ich gesundheitlich so gut wiederhergestellt, dass ich mich sicherlich mit dem Gedanken beschäftigen könnte.“ Die Gedanken gehen aber nun eher in die Richtung, eine Zeitlang einen Hund in Pflege zu nehmen.
Was er auch gern täte, ist Tandemfahren, „alleine Radfahren geht ja nicht“. Einfach spazieren zu gehen, findet Michael langweilig. „Du bist ja als Blinder eingeschränkter, weil man nicht so ohne Weiteres einen Weg gehen kann, den man vorher noch nie gegangen ist.“ Sich einer Wandergruppe anzuschließen, hat er sich bisher nicht getraut. „Ich habe es noch nicht so verfolgt, weil immer so viele Sachen dabei zusammenkommen – auch, dass viele Sehende Berührungsängste haben. Dabei ist es gar nicht so schwierig, weil man miteinander reden kann.“
Das ist wichtig, weil Sehende sonst mitunter dazu neigen, blinde Menschen ungefragt über eine Straße zu bringen – obwohl diese es gar nicht wollen. Richtig wäre, sagt Michael, zu fragen: „Kann ich Ihnen irgendwie helfen?“ Dann kann er entsprechend reagieren und bei Bedarf die angebotene Hilfe annehmen. Zum Führen gibt es dann eine gute Methode, die er empfiehlt: Der Sehende, der einen führt, lässt seinen Arm locker herunterhängen und der Mensch mit eingeschränktem Sehen fasst ihn locker am Ellenbogen an und geht dann ein Stück hinter ihm. „Das ist für beide Seiten entspannter, weil ich merke, was der Sehende vorhat, und der Sehende muss nicht seinen Arm krampfhaft krumm halten, damit sich der Blinde einhaken kann.“
Wenige Kontakte zu anderen Menschen mit Diabetes
Kontakte zu anderen Menschen mit Diabetes hat Michael kaum. „Ich bin in einer Mailing-Liste, aber die ist bundesweit. Und mit solchen Sachen wie Facebook oder X oder so, das ist alles nicht so wirklich meins.“ Er mag es nicht, wenn Menschen auf solchen Plattformen viele sehr persönliche Details preisgeben. Er sieht darin auch ein Risiko, leicht an Menschen mit schlechten Absichten zu geraten.
Gerade, wenn man mit Einschränkungen lebt, sieht er hier ein noch größeres Risiko. So wurde sein Blindsein im realen Leben schon von Betrügern ausgenutzt – zum Glück vereitelt durch eine pfiffige Nachbarschaft. „Man muss heute so vorsichtig sein und da habe ich mir doch ein sehr gesundes Misstrauen zugelegt und gebe so ohne Weiteres Sachen von mir gar nicht preis.“ Auch die Frage Fremder auf der Straße „Wo wollen Sie hin, nach Hause?“ beantwortet er grundsätzlich nicht, schon gar nicht, wenn er dann gefragt wird, wo sein Zuhause ist. „Betrogen und reingelegt werden kann jeder, aber als Blinder ist man da doch noch einmal um einiges schlimmer dran.“ Aber Michael hat tolle Nachbarn und einen guten Freund, auf die er sich verlassen kann.
Viele Wünsche durch das Blindsein
Die Wünsche, die Michael für die Zukunft hat, sind vielfältig. „Klar wäre es schön, wenn Diabetes keine Rolle mehr für mich spielen würde. Aber andererseits kommen mein ‚römischer Freund‘ und ich so gut miteinander aus, das ist nicht belastend für mich.“ Toll wären für ihn auch ein autonomes Auto, das er sogar ohne sehen zu können benutzen könnte, und eine Virtual-Reality-Brille, die ihn an ein gewünschtes Ziel führt.
„Und was ich mir auch wünschen würde: dass ich einfach in einen Supermarkt oder ein Kaufhaus gehen könnte und stöbern, wie es die anderen Leute auch machen. Das würde zum Beispiel bedeuten, dass an den Regalen im Supermarkt in Blindenschrift steht, was genau drin ist, dass jede Lebensmittelpackung oder die Kartons genau beschriftet sind. Und ich wünsche mir noch mehr Barrierefreiheit im Internet und im öffentlichen Raum.“
Erschienen in: Diabetes-Anker, 2025; 73 (8/9) Seite 54-57
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