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70 Jahre leben mit Typ-1-Diabetes: Die 85-jährige Erika Späth denkt positiv, kümmert sich konsequent um ihren Diabetes und kämpft unbeirrt dafür, dass in der Pflege bessere Bedingungen für Menschen mit Diabetes geschaffen werden. Für ihre Lebensgeschichte wurde sie anlässlich des Weltdiabetestags mit der Mehnert-Medaille geehrt.
„Bringt euren Rollator mit, ich hab’ nicht so viele Stühle“, sagt Erika Späth. So reiht am Tag ihres Geburtstags eine Gehhilfe an der anderen – vom Wohnzimmer über den Wohnungsflur bis hinaus in den großen Gang, von dem ihr Apartment abgeht. Zur Feier des Tages hat Erika Späth ihre Freunde und Nachbarn aus dem betreuten Wohnen zum Sektempfang eingeladen, 22 Personen, und alle sind gekommen, berichtet sie. Mit einem einzigen Glas Sekt – mehr erlaubt sie sich nicht – schafft sie es sogar, mit jedem ihrer Gäste einmal anzustoßen. 85 volle Lebensjahre zählt sie an diesem Tag im September, genau 70 davon lebt sie bereits mit Diabetes Typ 1. Für ihr Leben wurde sie nun mit der Mehnert-Medaille geehrt.
Erika Späth kann sich noch gut daran erinnern, wie es für sie war, als der Diabetes diagnostiziert wurde. Sie war 15 Jahre alt und im ersten Lehrjahr zur Industriekauffrau. Vier Wochen verbrachte sie damals im Krankenhaus, wo ihr Stoffwechsel mit Haferschleim und Insulin wieder eingestellt wurde. Nach Hause ging sie mit einer Insulindosis am Tag und einem starren Essensplan. Glukosesensor, Insulinpumpe, automatische Insulindosierung – all das war 1953 noch in weiter Ferne. Stattdessen: Glasspritzen, die regelmäßig ausgekocht, und Kanülen, die nachgeschliffen werden mussten, damit sie wieder gut stechen. „Diese Anfangszeit möchte ich nicht noch einmal mitmachen“, sagt sie.
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Wer das weiß, versteht vielleicht, weshalb Erika Späth im Management ihres Diabetes so strikt ist. Ein Stückchen Kuchen oder Eiscreme nach der Mahlzeit kommen für sie nicht infrage. Erika Späth hält nichts von dem Ausspruch, dass Menschen mit Diabetes heute alles essen dürfen. Es stimme zwar, werde aber viel zu leichtfertig dahingesagt und verinnerlicht. „Warum soll ich meinen Zucker hochjubeln, wenn ich ihn danach wieder herunterholen muss? Also esse ich das süße Zeug erst gar nicht“, meint sie.
Auch Erika Späth musste das lernen. Als junges Mädchen habe sie ihre Grenzen ausgetestet, landete aber immer wieder im Krankenhaus. „Mein Zucker hat sich von Anfang an schlecht einstellen lassen“, berichtet sie. Besonders die „Tratschweiber“ aus ihrer Nachbarschaft hätten sie jedoch damals angespornt, ihren Diabetes zu meistern. „Sie haben mich immer sterben lassen: ‚Das Mädchen wird nicht alt‘, haben sie gesagt. Denen wollte ich es beweisen. Noch heute muss ich oft darüber nachdenken. Diese Frauen sind alle längst gestorben und ich lebe noch. Und ich lebe gut. Ich denke positiv und lebe konsequent.“
1958 heiratete Erika Späth ihren Ehemann Hermann. Gemeinsam lebten die beiden 50 Jahre in Nürnberg, durchwanderten fast die gesamte fränkische Schweiz und feierten viele große Feste. Sie arbeitete als Sekretärin bei einem Juwelier, er war Eisenbahner. Der Kinderwunsch des Paares blieb unerfüllt. Eine Schwangerschaft wäre lebensbedrohlich für Mutter und Kind, so die damalige Meinung. „Ich hätte es auch nicht verkraftet, ein Kind zu haben, das das Gleiche durchmachen muss wie ich“, sagt Erika Späth. Stattdessen kümmerte sie sich jahrelang um die Kinder in der Nachbarschaft. Im Viertel ist sie liebevoll als „Oma Erika“ bekannt. Noch heute, berichtet Erika Späth, meldet sich das ein oder andere Kind von damals bei ihr. Und das, obwohl sie inzwischen schon vor zehn Jahren von Nürnberg in ihren Geburtsort nach Helmbrechts zurückkehrte.
Nachdem ihr Mann gestorben war, zog Erika Späth in eine Einrichtung für betreutes Wohnen und lebt seither ganz in der Nähe ihrer Patentochter und deren Ehemann. Die beiden unterstützen sie im Alltag. „Ich kann meine Verwandtschaft gar nicht hoch genug loben“, betont sie. Um ihren Diabetes kümmert sich Erika Späth aber bis heute selbst. Sie hofft, dass das noch lange so bleiben kann, denn wie Menschen mit Diabetes in der Pflege behandelt werden, bereitet ihr große Sorgen. Einrichtungen und Pflegekräfte wüssten zu wenig über die Erkrankung.
Immer wieder erlebt Erika Späth, wie Typ-2-Diabetes und Typ-1-Diabetes einfach miteinander gleichgesetzt werden: „Beim Essen sind grundsätzlich keine Kohlenhydrate ausgewiesen. Spritz-Essens-Abstände, die einige Menschen mit Typ-1-Diabetes benötigen, werden nicht berücksichtigt, stattdessen wird immer zu festen Zeiten gegessen“, kritisiert sie. Auch die Werte der kontinuierlichen Glukosemessung würden nicht anerkannt, „stattdessen bestehen sie auf ihr vorsintflutliches Drei-Mal-täglich-in-den-Finger-Piksen“, sagt Erika Späth. Zudem vermisse sie oft Alternativen zu Süßspeisen.
Wenn es um Diabetes-Technologie gehe, seien die meisten Pflegekräfte überfordert. Es kam auch schon vor, dass sie diejenige war, die ihre Freundin beim Sensorwechsel unterstützen musste, weil das Pflegepersonal es nicht konnte. Für Menschen wie Erika Späth ist es bittere Ironie, jahrzehntelang auf den medizinisch-technologischen Fortschritt gewartet zu haben, nur, damit er ihnen im Alter womöglich erneut verwehrt bleibt.
Experten bestätigen Erika Späths Erfahrungen. So mahnte beispielsweise der Verband der Diabetes-Beratungs- und Schulungsberufe in Deutschland (VDBD) erst kürzlich in einer Presse-Mitteilung, dass aufgrund mangelnder Kenntnisse des Pflegepersonals Menschen mit Diabetes im Alter auf „effektive und sichere Therapieformen verzichten“ müssten. Oft seien Heimbewohner und -bewohnerinnen sogar dazu gezwungen, ihre Insulinpumpe und ihren Glukosesensor beim Eintritt ins Pflegeheim abzugeben, so der VDBD. Dass Fachkreise über die Probleme Bescheid wissen, genügt Erika Späth nicht. Ihr ist es wichtig, dass die besonderen Bedürfnisse von Menschen mit Typ-1-Diabetes in die breite Öffentlichkeit getragen werden, „sonst tut sich nie etwas“.
Mehrfach hat sich Erika Späth an die Heimleitung und die Diakonie gewandt und auf die Missstände aufmerksam gemacht. Sie fordert, dass zumindest größere Pflegeeinrichtungen Nischen schaffen, in denen diabetologisch ausgebildete Fachkräfte arbeiten. Bis heute hat sich jedoch niemand aus diesen Kreisen dazu geäußert. Viele weitere Briefe und E-Mails hat Erika Späth verschickt: an sämtliche Landesverbände der Diabetes-Selbsthilfe, Personen aus Politik und Medien oder den VdK. Bis in den Bundestag ging ihr Anliegen sogar schon, lief aber ins Leere, da der Bundestag die Länder für zuständig hielt, die Länder wiederum den Bund. Das Büro von Karl Lauterbach, damals noch in der Opposition, riet ihr, sich an ihre Krankenkasse zu wenden, dort biete man Diabetesschulungen an. Erika Späth weiß heute noch, wie wütend sie über diese Aussage war.
Mehr Einsatz wünscht sie sich auch von anderen Menschen mit Diabetes. Ihrer Meinung nach müsste aus den eigenen Reihen viel mehr Druck aufgebaut werden. In ihrer Selbsthilfegruppe, mit der sie sich monatlich trifft, sei sie die Älteste. Dass die vielen Jüngeren dort ans Alter denken, sei eher die Ausnahme. „Die meisten schauen primär auf sich und darauf, dass sie mit ihrem Diabetes gut im Alltag zurechtkommen“, sagt Erika Späth. „Anfangs nahm ich an, dass ein Sturm entsteht, wenn ich mich an die Landesgruppen wende, aber die Resonanz war gering“, bedauert sie.
Trotzdem gibt Erika Späth nicht auf. Mit der Einstellung „Da kann man eben nichts machen“ gibt sie sich nicht zufrieden. Für die Situation in der Pflege will sie noch ein bisschen weiterkämpfen, „auch wenn es mir persönlich wohl nichts mehr bringen wird. Aber vielleicht kann ich ja noch etwas anstoßen.“
Langweilig wird Erika Späth jedenfalls auch sonst nicht. „Ich gehöre zu den Menschen, die immer etwas zu tun haben“, sagt sie. Sie lebt „vergnügt“ in ihrer Wohnung, kümmert sich um die Pflanzen auf ihrem Balkon oder bastelt, wenn sie nicht gerade irgendwo „stichelt“ und für ihre Rechte kämpft. Ihrer Hartnäckigkeit ist übrigens auch zu verdanken, dass sie einen besseren Rollator erhielt als den, den die Krankenkasse für sie vorgesehen hatte. Einige Bewohner und Bewohnerinnen des Pflegeheims sind ihrem guten Beispiel gleich gefolgt und haben sich das gleiche Modell bestellt, berichtet Erika Späth.
Immer wieder klingele auch das Telefon oder es komme unverhofft Besuch. „Ich war immer die Beicht-Tante. Jeder hat mir seine Geheimnisse anvertraut und ich habe sie nie weitergesagt. Auch nicht, wenn die Gegenseite kam, die ebenfalls gejammert hat.“ Sie habe schon immer versucht zu vermitteln, so gut es ging. Deshalb habe sie so viele Bekannte – auch wenn schon viele gestorben seien und es immer leerer um einen herum werde, je älter man werde. „Das macht aber nichts“, sagt sie. „Man darf trotzdem den Kopf nicht hängen lassen, man muss nach vorne schauen und positiv denken.“
von Verena Schweitzer
Erschienen in: Diabetes-Journal, 2024; 72 (1) Seite 42-45
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