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Dipl.-Psych. Susanne Baulig stellt zwei Menschen aus ihrer Praxis vor. Beide schämten sich wegen ihres Diabetes – und beide lernten, die Scham zu überwinden … und sogar stolz auf sich zu sein. Mit wichtigen Tipps fürs Diabetes-Outing!
Eine chronische Erkrankung, die niemandem anzusehen ist, bringt für Betroffene die Herausforderung mit sich, dass sie sich mit der Frage auseinandersetzen müssen: „Wem möchte ich von meiner Krankheit erzählen – und wem nicht?“ Mit zunehmender Diabetes-Erfahrung können manche Menschen mit Diabetes ihrem Umfeld souverän von ihrer Krankheit berichten.
Andere dagegen möchten ihre Erkrankung höchstens engen Vertrauten preisgeben. Sie schaffen es manchmal nur unter Einsatz großer Mühen, ihren Diabetes und dessen Management vor ihren Mitmenschen zu verbergen. Auch in der psychodiabetologischen Behandlung erzählen Patienten mir oft von unangenehmen Situationen durch das Sichtbarwerden ihres Diabetes. Dabei wird schnell klar: Viele Menschen sind geplagt von Unsicherheit und belastenden Gefühlen.
Das Thema Krankheits-Outing kann in ganz verschiedenen sozialen Konstellationen eine Rolle spielen: Erwachsene stellen sich die Frage, ob sie offen mit ihrem Diabetes umgehen oder ihn verheimlichen sollen, oft im Zusammenhang mit einem neuen Job (siehe folgenden Infokasten) oder beim Dating. Für Kinder mit Diabetes (und deren Eltern) ist es oft der Übergang in ein neues soziales Umfeld wie der Wechsel vom Kindergarten in die Grundschule oder der Eintritt in die weiterführende Schule, der die Frage nach dem Diabetes-Outing aufwirft.
Im Straßenverkehr:
Grundsätzlich gilt:
Wie werden die Kollegen ein neues Teammitglied mit chronischer Erkrankung aufnehmen? Was wird die potenzielle neue Partnerin zur Insulinpumpe sagen? Wie werden die neuen Mitschüler auf ein Kind reagieren, das im Unterricht ganz plötzlich einen Apfelsaft trinkt? Wenn diese Themen in der Psychotherapie zur Sprache kommen, zeigt sich häufig, dass der Aspekt der Scham beim Diabetes-Outing eine große Rolle spielt.
Manchmal kann in der psychotherapeutischen biographischen Arbeit ergründet werden, dass der Glaubenssatz „Bloß nicht auffallen“ sich in den Lebensläufen der Patienten zu einem starken Leitmotiv entwickelt hat.
So erzählt Dieter L. (45 Jahre), der selbst Typ 1-Diabetes hat, in der Psychotherapie:
Schon mein Vater war Diabetiker. Ich erinnere mich an viele Situationen meiner Kindheit, in denen ich meinen Schulfreunden erklären musste, wieso mein Vater, der oft unterzuckerte, sich so seltsam verhielt. Das war mir immer furchtbar peinlich. Und auf Familienfeiern drehte sich alles um die Frage, ob er dieses oder jenes nun essen dürfe. Bald gab es für die gesamte Verwandtschaft kein anderes Thema mehr. Ich habe mir mehr als einmal gewünscht, einfach eine ganz normale Familie zu haben.
Als ich mit Anfang zwanzig selbst meinen Diabetes bekam, war einer meiner ersten Gedanken: Niemals wirst du irgendjemandem deine Krankheit auf die Nase binden. Deshalb erzähle ich meistens erst einmal gar nicht, dass ich Diabetes habe. Meine Familie und sehr enge Freunde wissen vom Diabetes. Aber alle anderen geht das nichts an. Meine Kleidung und die Stellen, an denen ich meinen Sensor trage, wähle ich immer so aus, dass der Sensor stets bedeckt ist, damit der Diabetes nicht zum Gesprächsthema wird.
Bei Carla H. (52 Jahre) ist die Angst vor dem Diabetes-Outing anders gelagert:
Ich bin alleinstehend und habe in meinem Beruf als Wissenschaftlerin Karriere gemacht. Ich bekomme viel Anerkennung und gelte für alle als „Powerfrau“, die nichts erschüttern kann. Die Diagnose „Typ-2-Diabetes“ war ein Schock für mich. Eine chronische Erkrankung passt weder zu mir noch zu meinem Leben. Wenn mein berufliches Umfeld davon erfahren würde, würde es mich bestimmt mit ganz anderen Augen sehen.
Trotz unterschiedlicher Beweggründe ist beiden Patienten gemeinsam, dass sie sich für ihre Krankheit schämen und deswegen nach Kräften versuchen, den Diabetes vor anderen zu verbergen. Die Grundlage für das diabetesbezogene Schamgefühl entwickelte sich bei Dieter L. schon früh durch das Verhalten seines Vaters im Umgang mit dessen eigenem Diabetes.
Dagegen wurde bei Carla H. das Selbstbild der gesunden und gestandenen Karrierefrau durch die Diagnose der chronischen Erkrankung massiv erschüttert. Von einem Moment auf den anderen empfand sie sich als „krank und minderwertig“ – Eigenschaften, die andere auf keinen Fall in ihr sehen sollten.
Scham als soziales Gefühl zu empfinden, ist normal: Jeder kennt sie aus verschiedenen Situationen. Sie entsteht, wenn intime Grenzen überschritten werden, beispielsweise wenn wir uns beim Arzt für bestimmte Untersuchungen entkleiden müssen, und verschwindet, wenn die unangenehme Situation vorüber ist.
Zum Problem wird die Scham dann, wenn sie sich zu einem dauerhaften, bohrenden und zutiefst unangenehmen Gefühl auswächst. Chronische Scham sorgt dafür, dass man sich fehlerhaft und ausgeschlossen von den „normalen anderen“ empfindet. Schließlich zieht man sich zurück. Für Menschen mit Diabetes kann das bedeuten: Man outet sich nicht als jemand mit einer chronischen Erkrankung, um weiterhin als Teil der Gesunden, also der „Normalen“ wahrgenommen zu werden.
Egal, in welchem Alter und welcher Lebensphase sich die Betroffenen gerade befinden, ist es häufig die Angst vor dem Be-schämt-werden, die sie davon abhält, offen mit dem Diabetes umzugehen. Immerhin besteht ein realistisches Risiko, auch einmal Unverständnis für oder Ablehnung gegenüber der Krankheit entgegengebracht zu bekommen.
Aber es gibt einen Weg aus der Scham – und der führt mitten durch die Scham hindurch. Diese Erfahrung können auch Dieter L. und Carla H. machen: In ihrer Psychotherapie lernen sie, dass es nicht sinnvoll ist, sich zurückzuziehen und den Diabetes zu verstecken. Die Scham für ihre chronische Krankheit war dadurch nämlich während all der Jahre nicht geringer, sondern immer größer geworden. Nun beginnen sie, genau gegenteilig zu handeln und sich anderen Stück für Stück zu offenbaren. Dadurch stellen sie sich dem Schamgefühl und machen die Erfahrung, dass es sogar abnimmt, wenn sie offener mit ihrem Diabetes umgehen.
Mittlerweile ist für beide Patienten an die Stelle der Scham außerdem ein ganz anderes Gefühl getreten: Stolz. Darauf, dass sie mutig gewesen sind und sich selbst – ganz unabhängig von der Reaktion der anderen – so angenommen haben, wie sie sind.
Dieter L. beschreibt dies folgendermaßen:
Was den Diabetes angeht, bin ich viel selbstbewusster geworden. Ich habe kein Problem mehr damit, im Sommer kurzärmlige T-Shirts zu tragen und meinen Sensor am Oberarm zu zeigen. Ein paarmal ist es mir jetzt schon passiert, dass ich in der Öffentlichkeit von wildfremden Menschen angesprochen wurde und dann plötzlich Fragen beantworten musste. Warum trage ich diesen „Knopf“ an meinem Arm? Tut der nicht weh? Für solche Situationen habe ich mir einige Antworten zurechtgelegt. Ich kann akzeptieren, dass die Leute neugierig auf Dinge sind, die sie nicht kennen.
Der Diabetes gehört zu meinem Leben und ich will ihn nicht mehr verstecken. Auf unangemessene Fragen oder Kommentare wie, dass ich bestimmt als Kind zu viel Süßes gegessen habe, gehe ich aber nicht ein. Auch ich habe meine Grenzen. Die können je nach Tagesform variieren. Meinen offeneren Umgang mit dem Thema finde ich ziemlich gut und auf jeden Fall entspannter als vorher.
Auch Carla H. machte Fortschritte und erzählte zumindest in ihrem privaten Umfeld von ihrem Diabetes:
Meine Freunde und Bekannten haben durchweg positiv reagiert. Eine Bekannte hatte sogar auch vor Kurzem die Diabetes-Diagnose bekommen und wir tauschen jetzt oft Tipps zur Bewegung im Alltag oder Low-Carb-Rezepte aus, dadurch haben wir intensiveren Kontakt als früher. Ich habe allerdings beschlossen, den Diabetes auch weiterhin aus dem beruflichen Kontext rauszuhalten. Ich möchte selbst bestimmen, welches Bild meine Kollegen von mir haben. Und dazu gehört in dem Fall der Diabetes nicht. Wer weiß, vielleicht ändert sich das ja irgendwann.
Autorin:
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Erschienen in: Diabetes-Journal, 2020; 69 (7) Seite 20-24
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