3 Minuten
„Ist das jetzt dein Ernst?“ Der Diabetes starrte mich an.
„Was denn?“, erwiderte ich, während ich vorsichtig in meinen Kaffee pustete.
„Was denn? Was denn? Weißt du, wie lange ich dich nicht mehr gesehen habe? Fünf Monate! Fast ein halbes Jahr! Und jetzt tauchst du plötzlich auf mit einem, mit einem –“
„Einem Pumpkin-Spice-Latte“, ergänzte ich hilfreich.
„Ist mir doch egal, was für ’ne Kürbissuppe das ist!“, rief der Diabetes frustriert, „wo warst du bitte schön?“
„Ich, äh, also, ich habe studiert.“
„Ja, ach was, das tust du aber nicht erst seit Juni.“
Ich seufzte, wissend, dass der Diabetes jetzt nicht klein beigeben würde.
„Naja, ich hatte halt Prüfungen“, holte ich also zur Erklärung aus, „und dann mein Praktikum im Krankenhaus. Und dann wieder Prüfungen. Gut, zwischendurch war ich auch noch im Urlaub und hab’ meine Serien-Watchlist abgearbeitet und oh, ich verbringe gerade viel Zeit damit, meine virtuelle zuckersüße Insel zu gestalten. Du merkst also schon, ich bin sehr, sehr beschäftigt. Das verstehst du doch, oder?“
Ich versuchte, dem Diabetes beschwichtigend zuzulächeln, aber der drehte sich nur demonstrativ weg.
„Ach komm schon, jetzt sei nicht so. Tut mir leid, okay? Es war echt nicht meine Absicht, so lange weg zu sein, ist halt so passiert.“
Langsam begann ich, ungeduldig zu werden, und wollte schon nach dem Diabetes greifen und ihn zu mir ziehen, als mir etwas auffiel.
Seine Schultern zuckten.
Und dann, ganz leise, ein Schluchzen.
Oh nein. Oh nein, oh nein, oh nein… der Diabetes weinte. Ich hatte meinen Diabetes kaputt gemacht.
Panisch sah ich mich nach etwas um, was mir helfen konnte, doch außer meinem Kaffee hatte ich nichts bei mir, also blieb mir nichts anderes übrig, als es damit zu versuchen.
„Hey, Diabetes, guck mal! In dem Kaffee ist ganz viel Zucker drin! Und ich werde ihn jetzt trinken und dabei ganz zufällig vergessen, Insulin abzugeben!“
Gespannt blickte ich den Diabetes an, doch immer noch keine weitere Reaktion. Wenn der Diabetes das Versprechen eines unkontrolliert steigenden Blutzuckers ignorieren konnte, dann war die Lage wirklich noch ernster als befürchtet.
„Du kannst mich doch unmöglich so sehr vermisst haben“, wagte ich es also erneut.
Zumindest das schien etwas aus dem Diabetes herauszulocken, wenn auch nur in gemurmelter Form.
„Sorry, was?“
„Ich habe gesagt“, wiederholte der Diabetes diesmal lauter, „ich dachte, du kommst nicht wieder.“
„Aber warum sollte ich –“ Noch während ich antwortete, realisierte ich es. Plötzlich wusste ich, warum der Diabetes so drauf war.
„Diabetes, ich war nicht weg, weil ich ein Problem mit dir hatte. Es war wirklich einfach nur viel los in letzter Zeit. Und ich weiß, dass das früher anders war.
Wenn ich damals nicht mit dir gesprochen, wenn ich dich ignoriert habe – dann aus tiefster Scham. Ich war wütend, ich war verletzt und du warst der Schuldige. Aber wenn ich mich heute ein wenig von dir entferne, wenn gerade anderes im Leben zu tun ist, dann, weil ich mir das zutraue. Weil ich aus diesen Ruinen ein Haus aufgebaut habe, dessen Tür nie ganz verschlossen ist. Ich kann immer zurückkommen. Und klar, es gibt immer noch Tage, an denen ich dir wirklich viel weniger Aufmerksamkeit gebe, als ich eigentlich tun sollte, als es eigentlich am sichersten wäre. Da gucke ich zu selten auf meine Werte, schiebe den Katheterwechsel zu lange auf, ignoriere gekonnt jeden Spritz-Ess-Abstand. Aber das war früher die Normalität und jetzt ist es nur noch die Ausnahme. Und Ausnahmen sind okay, manchmal sogar wichtig, um zumindest kurz durchatmen zu können.
Denn mittlerweile habe ich Vertrauen, in mich selbst und darauf, dass ich nicht mehr die Kontrolle verliere. Ich habe all diese zerbrochenen Jahre in meine Hände genommen und mir geschworen, dass ich auf dich und auf mich aufpasse.“
Ich machte kurz Pause und schluckte. „Wenn ich mich also eine Weile nicht so sehr mit dir beschäftige, dann nicht, weil ich dich erneut aus meinem Leben ausschließen will. Im Gegenteil, du gehörst nun so sehr zu meinem Leben, dass ich es mir erlauben kann, dich mal nebenher laufen zu lassen. Du weißt gar nicht, was für eine Angst ich hatte, als ich dieses Studium begonnen habe. Wie viele Sorgen ich mir gemacht habe, dass ich wieder in alte Muster rutsche, sobald ich zu gestresst und beschäftigt bin. Dass alles, worauf ich so stolz bin, zunichtegemacht wird. Aber hey, guck uns an. Fünf Monate Stille und es hat sich noch nicht mal wirklich etwas verändert. Eigentlich kann es für uns beide kein größeres Kompliment geben.“
Der Diabetes sah mich endlich an, wenn auch mit aufgerissenen, ungläubigen Augen. „Echt jetzt?“
Ich musste auflachen. „Ja, echt jetzt, versprochen.“
Der Diabetes schien mir nun endgültig verziehen zu haben, denn er lehnte sich vor und grinste mich an. „Das Angebot mit dem Kaffee ohne Insulin steht aber noch, oder?“ Ich verdrehte die Augen und nahm einen großen Schluck. Alles tatsächlich wie beim Alten.
Hier kommt ihr zum letzten Gespräch mit Hudas Diabetes:
21 Minuten
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