Warum ich manchmal Dinge tue, die ich eigentlich nicht tun sollte

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Warum ich manchmal Dinge tue, die ich eigentlich nicht tun sollte

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Der Wecker klingelt, ich stehe auf, schlüpfe noch im Halbschlaf in meine Laufklamotten und begebe mich auf meine 30-minütige Tour durch das gerade erwachende Land. Zurück zu Hause geht es unter die Dusche, danach fertig machen für die Arbeit. Meine Arbeitstage laufen immer strukturiert ab und gleichzeitig so facettenreich: Meetings, Pitch schreiben, Brainstorming, Messen, Vorträge, Kundenbesuche, neue Strategien entwickeln, dazwischen messen, bolen und essen. Wieder 1-2 Überstunden auf das Konto gearbeitet. Feierabend. Das heißt wahlweise zum Sport ins Fitnessstudio, Arzttermine, Einkaufen, vielleicht auch alles zusammen.

Quelle: Pixabay

Ich merke schon den Tag in meinen Knochen, wenn ich nach Hause komme. Dann heißt es Essen machen – aber bitte ausgewogen und immer schön berechnen, testen, bolen. Der Haushalt macht sich auch nicht von allein, das schaffe ich schon noch. Ab ins Bett, hoffen, dass man schlafen kann und den morgigen Ablauf wieder meistert.

Ja, ich habe einen stressigen und arbeitsaufwendigen Job. Mein Alltag wird darumgebastelt, alles getimt, alles in Zeit bemessen. Da bin ich nicht die Einzige. Ich möchte beruflich erfolgreich sein und weiß, dass dies ein gewisses Pensum von mir verlangt.

Der tägliche Begleiter, der Diabetes

Dann ist da aber auch noch mein täglicher Begleiter, der in mir wohnt und mir meinen super strukturierten Tag sowie meinen ganzen Ablauf durcheinanderbringen kann. Der Diabetes. Bei Stress reagiert mein Diabetes immer sehr sensibel. Bin ich gestresst, aber in einem beruflichen Umfeld, das mich beobachtet, zum Beispiel in einem Meeting, und ich das alles beiseiteschieben muss, wandert der Wert langsam, aber sehr stetig nach unten. Bin ich jedoch an einem Punkt, wo sich mein Stress in einen gewissen Ärger verwandelt hat und jetzt lautstark den Weg aus mir herausfindet, schnellen die Werte gen 400 mg/dl (22,2 mmol/l). Ich habe es mittlerweile einigermaßen unter Kontrolle, aber auch das muss ich in meinen Tagesablauf mit einplanen. Das Testen und Bolen ist dank Omnipod und Dexcom G6 leichter geworden, keine Frage. Aber manchmal ist mir diese Minute einfach zu lang.

Wir wissen alle, dass die Krankheit einen gewissen Kontrollzwang mit sich bringt. Wir können nicht sagen: „Ach, heute fühle ich mich nicht so nach Diabetes, das lasse ich heute mal!“ Wir stehen ständig unter dem Druck, dafür zu sorgen, dass wir leben. Natürlich ist das nicht unser ständiger Gedanke. Wir stellen uns nicht vor mit den Worten: „Hallo, ich bin die Mine und ich springe jeden Tag, dank meines Zutuns, dem Tod von der Schippe!“ Aber in unserem Unterbewusstsein ist genau dieser Fakt völlig präsent. Das ist den meisten, die von meinem Diabetes wissen, gar nicht bewusst. Das ist auch völlig in Ordnung, denn mir ist viel wichtiger, dass ich mehr bin als mein Diabetes.

Die Mini-Cheat-Momente

Es gibt da aber eine kleine Lücke bei meinem super durchstrukturierten Leben. Druck erzeugt Gegendruck. Und dieser gewinnt unweigerlich. Der Gegendruck erwischt mich selten an einem Montag. Aber Freitage fühlen sich schon fast an, als wären sie für den Gegendruck gemacht. Das sind sozusagen die auserwählten Momente. Die Tage, an denen die Erschöpfung vom ewigen Wettlauf gegen mich selbst schon sehr zu spüren ist. Dann passiert es, dass das Mittagessen ohne Testen und Bolen verputzt wird und ich das Erste nach einer Stunde mit Korrekturfaktor wieder in die richtige Bahn leite. Mein Ernährungstagebuch lasse ich dann auch mal gerne links liegen. So entstehen Lücken in der Aufzeichnung und Spitzen in der Kurve.

Es sind Mini-Cheat-Momente, gegen die Strukturen und Regeln. Es fühlt sich fast an, als würde mein inneres Kind gegen die Wände seines Zimmers klopfen, um zu rebellieren. Es ist ganz klar – ich tue Dinge, die ich eigentlich nicht tun sollte. Vor allem, weil sie sich zu 90% auf meinen Diabetes beziehen und ich direkt meinem eigenen Leben schade, ja, es vielleicht sogar ein wenig aufs Spiel setze. Es wäre mit weniger Tragweite versehen, wenn ich eine Deadline um 10 Minuten verpasse oder mal zu spät im Büro erscheine.

Quelle: Pixabay

Der Feind, der Diabetes

Der große Unterschied ist: Meine berufliche Karriere habe ich mir selbst aufgebaut und vor allem ausgesucht, den Diabetes mit Sicherheit nicht. Er war von Tag eins mein „Feind“, etwas, was mich noch mehr von anderen entfremdet und, noch viel schlimmer: der mir die Freiheit raubte. Mein Drang nach Freiheit, egal in welchem Lebensbereich, war immer schon unbeschreiblich groß. So groß, dass ich alles eng und strukturiert halten muss, um mir Freiheiten nur in kleinen Dosen zu halten. Um nicht zu übertreiben und loszufliegen.

Den Diabetes sehe ich nicht mehr als meinen Feind an, er gehört zu mir und wenn wir es realistisch sehen, wird sich daran auch niemals etwas ändern. Deshalb geht es bei meinen „Ausrutschern“ auch nicht darum, in welchen Bereichen meines Lebens die Tragweite geringer wäre. Es geht viel mehr um eine Pause – so verrückt es sich anhört – eine Pause von meinem Leben. Es kostet unheimlich viel Kraft, jeden Augenblick seines Lebens auf dem Drahtseil zu balancieren, jeden Tag auf die andere Seite und zurück zu tänzeln. Ist es da nicht verständlich, dass man sich manchmal ein Seil mitnimmt und sich für einen Moment an das Drahtseil bindet, um einfach dazuhängen und durchzuatmen?! Nur einen Moment Stille, absolute Ruhe.

Mittlerweile finde ich: JA, ich darf das! Ich bin überzeugt davon, dass es menschlich ist, Dinge zu tun, die man eigentlich nicht tun sollte. Unter der Bedingung, dass man sich aus dieser wundervollen Stille auch wieder selbst in die Realität katapultieren kann.


Auch Janne hat über die Belastung vom Diabetes im Alltag geschrieben: Steht uns der Diabetes im Weg?

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