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Wenn über mögliche Diabetes-Folgeerkrankungen gesprochen wird, geht es nur selten um die Auswirkungen einer Insulinresistenz im Gehirn. Dabei ist in Fachkreisen durchaus bekannt, dass das Hormon auch dort eine bedeutende Rolle bei der Steuerung von Stoffwechselprozessen spielt. Prof. Dr. Martin Heni, Leiter der Sektion Endokrinologie und Diabetologie am Universitätsklinikum Ulm, forscht schon seit Jahren in diesem Bereich und wurde dafür 2022 mit dem renommierten Minkowski-Preis ausgezeichnet. Wir sprachen mit ihm über seine Erkenntnisse.
Diabetes-Journal: Herr Professor Heni, die Information, dass Insulin auch im Gehirn benötigt wird, ist sicherlich für viele unserer Leser neu. Könnten Sie zu Beginn kurz erläutern, wofür es benötigt wird?
Prof. Dr. Martin Heni: Früher dachte man, Insulin sei ausschließlich dafür zuständig, dass Glukose in Körperzellen aufgenommen wird. Forscher haben dann herausgefunden, dass Tiere, bei denen Insulin im Gehirn nicht richtig wirkt, mehr fressen als andere Tiere. Diese Tiere werden übergewichtig und entwickeln erhöhte Blutfette. Nun war klar, dass es eine Insulin-Wirkung im Gehirn gibt und dass diese – zumindest bei Tieren – sehr wichtig für den Stoffwechsel im gesamten Körper ist. Wir haben in den vergangenen Jahren systematisch versucht, das Ganze auf den Menschen zu übertragen und zu verstehen, wie das funktioniert.
Wir haben dabei beobachtet, dass Insulin auch beim Menschen in bestimmten Gehirn-Arealen wirkt und darüber den Stoffwechsel steuert. Es moduliert unter anderem, wie viel Zucker unsere Leber produziert. Es moduliert, wie viel Zucker in Körperzellen, Muskeln oder auch Fettgewebe aufgenommen wird. Es moduliert außerdem, wie viel Insulin unser Pankreas selbst produziert. All diese Mechanismen sind wichtig für eine gute Regulation des Blutzuckers. Langfristig reguliert das Insulin im Gehirn zudem, wie in unserem Körper Energie verteilt und wo überschüssige Energie gespeichert wird.
Leider gibt es einen nicht einmal so kleinen Anteil an Menschen, bei denen Insulin im Gehirn nicht richtig wirkt, weil sie eine Insulinresistenz des Gehirns haben, was langfristig zu Störungen der Körperfettverteilung führt. Spannend ist in diesem Zusammenhang, dass Insulin im Gehirn nicht nur das Essverhalten reguliert, sondern zum Beispiel auch Gedächtnisprozesse. Wenn die Insulinwirkung im Gehirn gestört ist, kann sich das ungünstig auf das Gedächtnis auswirken.
DJ: Wie misst man diese Wirkung überhaupt?
Heni: Es gibt beim Menschen leider noch keine einfache Methode, um die Insulin-Wirkung im Gehirn zu messen. Wir arbeiten in Studien mit funktioneller Kernspintomographie (ein bildgebendes Verfahren, das Gehirnaktivität sichtbar macht, Anm. d. Redaktion) in Kombination mit einer besonderen Applikationsart von Insulin per Nasenspray. Es hat sich herausgestellt, dass bei dieser Applikationsart viel Insulin im Gehirn ankommt und fast nichts im Rest des Körpers. Für die Therapie von hohem Blutzucker ist sie deshalb ungeeignet.
Dank der bildgebenden Verfahren der funktionellen Kernspintomographie können wir aber sehr genau sehen, wo und wie stark Insulin im Gehirn wirkt. Es gibt in diesem Zusammenhang noch nicht viele Untersuchungen bei Menschen mit Typ-2-Diabetes. Wir glauben aber, dass die meisten Menschen mit Typ-2-Diabetes nicht nur in der Peripherie, sondern auch im Gehirn eine Insulinresistenz haben.
DJ: Wenn sich Insulinresistenz auch auf das Gedächtnis auswirkt, bedeutet dies, dass Betroffene ein höheres Risiko für Demenz haben?
Heni: Wir wissen schon eine ganze Weile, dass Menschen mit Diabetes ein größeres Demenz-Risiko haben. Früher dachte man, dies gelte nur für die vaskuläre Demenz (Demenz infolge einer Durchblutungsstörung, Anm. d. Redaktion), die durch kleine Schlaganfälle ausgelöst wird. Diese kommen bei Menschen mit Diabetes nämlich besonders häufig vor. In den vergangenen Jahren haben wir allerdings von Neurologen gelernt, dass Menschen mit Diabetes auch häufiger an der nicht vaskulären Demenz erkranken.
Inzwischen gibt es viele Hinweise darauf, dass die Alzheimer-Demenz mit einer Insulinresistenz des Gehirns zusammenhängt. Wir haben zum Beispiel beobachtet, dass schon bei Menschen mit Prädiabetes die Insulinresistenz ein ziemlich starker Prädiktor dafür ist, wie sich das Gedächtnis im Alter verhält. Menschen mit Insulinresistenz bauen in der Regel viel schneller kognitiv ab als andere Menschen. Ob tatsächlich ein Kausalzusammenhang besteht, ist bisher noch nicht ganz geklärt. Es gibt eine Reihe von laufenden Studien, die versuchen, mit Antidiabetika die Insulinresistenz zu senken, um damit auch günstige Effekte auf die Kognition auszulösen. Ich bin sehr gespannt, was dabei herauskommt.
DJ: Können Betroffene selbst irgendwas tun, um Demenz vorzubeugen, falls sie schon Diabetes haben?
Heni: Das Allerwichtigste ist aus meiner Sicht die Vermeidung von Hypoglykämien (Unterzuckerungen, Anm. d. Redaktion). Es ist sehr klar, dass bei älteren Menschen mit Diabetes jede Hypoglykämie das Demenzrisiko deutlich erhöht. Gut zur Vorbeugung sind außerdem alle Maßnahmen, die eine Insulinresistenz vermindern. Dazu zählt Sport bzw. regelmäßige körperliche Bewegung. Das ist auch fürs Gedächtnis sehr gut und kann eine Insulinresistenz durchbrechen. Die medikamentöse Behandlung ist jetzt ebenfalls in Erforschung.
Wir haben selbst einen SGLT-2-Inhibitor, Empagliflozin, untersucht und bei jüngeren Menschen mit Prädiabetes gute Ergebnisse gesehen. Bereits eine kurze Behandlung mit diesem Präparat konnte die Insulinresistenz ihres Gehirns durchbrechen. Wir haben außerdem Hinweise darauf, dass die verbesserte Wirkung von Insulin im Gehirn auch auf den Stoffwechsel im Rest des Körpers günstige Auswirkungen hat. Wenn wir die Risikofaktoren für Demenz, zum Beispiel Übergewicht, mit modernen Medikamenten gut behandeln und zudem darauf achten, Hypoglykämien zu vermeiden, dann reduzieren wir damit wahrscheinlich automatisch auch das Demenz-Risiko der betroffenen Personen, selbst wenn es eigentlich nicht das Behandlungsziel ist.
DJ: Rechnen Sie damit, dass die Verminderung von Insulinresistenz im Gehirn bei Menschen mit Diabetes irgendwann Standard in der Therapie wird?
Heni: Ich glaube, das ist noch ein sehr weiter Weg. Die Therapie hat aber das Potenzial, viele Folgeerkrankungen zu verhindern, die wir im Moment noch nicht so stark beachten. Wenn wir über Folgeerkrankungen des Diabetes sprechen, meinen wir meist Augen-, Nieren-, Fuß- oder auch Herz-Kreislauf-Erkrankungen, aber wir denken relativ wenig an Demenz oder auch an Depressionen, die bei Patienten mit Diabetes ebenfalls sehr viel häufiger sind. Wenn es uns zukünftig gelingt, die Insulinresistenz des Gehirns zu durchbrechen, haben wir hoffentlich ein Instrument an der Hand, um auch diese Folgeerkrankungen günstig zu beeinflussen. Das muss aus meiner Sicht ein Ziel sein.
DJ: In den vergangenen Jahren sind die Diabetes- und Demenz-Zahlen in der Bevölkerung immer weiter angestiegen. Besteht die Hoffnung, dass man diese Kurven mittelfristig brechen kann?
Heni: Die steigenden Zahlen sind sicher zum Teil auch auf die steigende Lebenserwartung zurückzuführen. Auch Menschen mit Diabetes werden zum Glück immer älter, aber sie erleben deswegen leider inzwischen auch Erkrankungen von älteren Menschen, die man früher bei Menschen mit Diabetes nicht so häufig gesehen hat. Trotzdem sind die Zahlen natürlich dramatisch und nicht ausschließlich durch die älter werdende Bevölkerung erklärbar. Es bleibt eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung, die Diabetes-Epidemie zu durchbrechen.
DJ: Was steht in Ihrer Forschung als Nächstes an? Wie geht es beim Thema Insulinresistenz im Gehirn weiter?
Heni: Mich beschäftigt derzeit sehr die Frage, wie wir Insulinresistenz im Gehirn einfacher feststellen können, ohne komplizierte Untersuchungen durchführen zu müssen. Es müsste bei einem normalen Arztbesuch feststellbar sein. Das wäre eine Voraussetzung, um überhaupt über gezielte Therapien für Gehirn-Insulinresistenz nachdenken zu können. Im Moment ist dies noch nicht möglich. Nicht zuletzt müssen die therapeutischen Ansätze weiter verbessert werden, sodass auch sie im wahren Leben durchführbar sind.
DJ: Wir danken Ihnen für das Gespräch!
Interview: Thorsten Ferdinand
Erschienen in: Diabetes-Journal, 2023; 72 (6) Seite 32-35
5 Minuten
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