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Ich habe schlecht geschlafen – die Aufregung! Der aktuelle Blutzucker: 150 mg/dl (8,3 mmol/l). Vor dem Frühstück wechsle ich vorsorglich die schon seit Tagen sehr schwachen Batterien des PDM meines mylife OmniPods, damit er auf der Strecke keinen Alarm macht. Aber: Murphy’s Law – das System meldet einen Fehler. Ich muss den Pod ersetzen und der Bolusrechner fällt für die nächsten Stunden aus. Also ist besondere Konzentration beim Frühstück gefragt – Müsli mit ein bisschen Obst –, um die richtige Insulinmenge zu berechnen (4 KE mal den morgendlichen Faktor minus Reduktion für den Sport). Ab neun Uhr reduziere ich zusätzlich die temporäre Basalrate für die nächsten drei Stunden um 50 Prozent.
Meine Freundin Verena – extra für den Halbmarathon aus München angereist – und ich haben unsere Sachen in die Lkw verstaut, die alle Sporttaschen zum Ziel bringen, und gehen Richtung Start.
Meine OmniPod-Fernbedienung habe ich nun doch mitgenommen – das mache ich sonst nie beim Laufen. Aber mein Blutzucker steigt und steigt. Bei 316 mg/dl (17,6 mmol/l; Tendenz stark steigend) werde ich nervös: Habe ich den Bolus zu stark reduziert beim Frühstück? Liegt es am Adrenalin? Funktioniert der neue Pod vielleicht nicht? Ich korrigiere vorsichtig. Mit mir trage ich außer meinem Handy zum Scannen des FreeStyle Libre und dem PDM noch eine Packung Dextro. Es kann losgehen.
Der Blutzucker liegt bei 243 mg/dl (13,5 mmol/l), Tendenz stark sinkend. Puh, der Pod funktioniert. Verena – ihres Zeichens eine mehr als durchtrainierte Läuferin – und ich feuern uns nochmal gegenseitig an, dann rennt sie mir schon davon.
Insgesamt gehen rund 10.000 Läufer an den Start. Ich reihe mich ein wenig vor dem Zielzeit-Läufer mit dem Ballon „2:15 Stunden“ ein. „Ankommen“ lautet das oberste Ziel. Unter 2:15 Stunden wäre die Wunsch-Zeit, unter 2:10 Stunden ein Traum und für unter 2 Stunden muss schon alles stimmen: das Wetter, die richtig geschnürten Schuhe, die Psyche, der Blutzucker, das Karma …
Es läuft super. 28 Minuten sind vorbei, ein guter Schnitt. Ich esse, ohne zu messen, auf Verdacht ein Traubenzuckerplättchen – Erfahrungswerte aus dem monatelangen Training, während dessen ich mir immer notiert habe, mit welchem Blutzucker ich losgelaufen und angekommen bin und wie ich Kohlenhydrate und Basalrate angepasst habe.
Läuft immer noch super. Die Zeit: 58 Minuten. Ich schiebe die nächste Dextro-Scheibe in den Mund. Unterwegs sorgen zahlreiche Bands, Tänzerinnen und Animateure für gute Stimmung, aber auch viele gutgelaunte Zuschauer feuern uns am Streckenrand mit lautem Geschrei und kreativen Schildern an: „Ihr habt dafür bezahlt – also lauft“, „Ihr seid spitze!“, „Seine Grenze erreicht man erst, wenn man kotzt“, „Noch 5 Kilometer bis zum nächsten Bier“.
Boah. Einbruch. Ich muss meinen Blutzucker messen – irgendetwas stimmt nicht. Ich bleibe stehen, packe umständlich mein Handy aus meiner am Oberarm befestigten Tasche und scanne meinen FreeStyle-Libre-Sensor: 76 mg/dl (4,2 mmol/l), Tendenz sinkend. Mist! Ich schiebe gleich 1,5 BE ein und trabe gefrustet weiter. Unterzucker bei Wettkampfbedingungen braucht niemand!
Übrigens: 10 Kilometer weiter … nach 1.01 Stunden überquert genau zu dieser Zeit gerade der Sieger des Hamburger Halbmarathons die Ziellinie. Verrückt, oder!?
Wäre das hier ein Training, ich würde meinen Lauf abbrechen. Ab und zu muss ich für ein paar Meter auf Schritttempo drosseln. Denn auch wenn sich der Blutzucker ganz, ganz langsam wieder nach oben arbeitet: So richtig leistungsstark bin ich mit tiefen Werten nun mal nicht. Aber Stehenbleiben ist keine Option für mich, zumal ich weiß, dass der Zucker wieder steigt. Das letzte Drittel wird zur Qual. Und auch wenn ich noch genügend Dextro in der Tasche habe, frage ich vorsorglich am nächsten Getränke-Versorgungsstand: „Habt ihr irgendetwas mit Zucker?“ Die Antwort: „Ne, nur Wasser.“
„Noch 3,5 Kilometer bis zum Endspurt“ steht mit Kreide auf der Laufstrecke. Das motiviert. Die Zuschauermenge an der Strecke wird dichter. Man kann das Ziel schon riechen.
„Nur noch eine Kurve und ihr seht das Ziel“, ruft ein Zuschauer von rechts. Noch eine Kurve? Das Ziel? Denkste – ich biege um die Kurve und sehe: kein Ziel. Am liebsten wäre ich umgedreht und hätte dem „falschen Motivator“ die Meinung gesagt. Aber die letzten Kräfte müssen sehr genau eingesetzt werden. Und irgendwann taucht es dann tatsächlich doch auf: das Ziel. Ich zähle die Bäume am Straßenrand bis dahin und beiße die Zähne zusammen!
2 Stunden, 10 Minuten, 39 Sekunden. Geschafft. Der Ziel-Blutzucker: 80 mg/dl (4,4 mmol/l). Man sieht mir meine Erleichterung auf dem Zielfoto an. Höhenflug, ein wahnsinnig tolles Gefühl! Meine Freundin Verena wartet schon auf mich. Sie kam an, als ich ungefähr bei Kilometer 17 war – nach der stolzen Zeit von 1:46 Stunden!
Und danach? Eine außergewöhnliche körperliche Belastung wie ein Halbmarathon wirkt ordentlich nach. Im Ziel habe ich erstmal fleißig nach Apfelsaft und verteilten Snacks gegriffen – was in der Blutzucker-Kurve regelrecht „verpuffte“. Auch am Tag danach war die Insulinsensitivität viel höher als sonst – während sich mein Bewegungsradius vom Bett über die Küche bis zum Schreibtisch und zurück beschränkte, nicht nur wegen der Blase am Zeh …
Alles egal. Denn auch wenn er mich unterwegs ein bisschen geärgert hat: Mein Diabetes musste bei meinem Ziel „Halbmarathon“ mitziehen und es hat geklappt – das ist es, was für mich zählt!
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