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Jahrelang funktionierte die Diabetestherapie der Kinder gut, die Glukosewerte bewegten sich in einem vertretbaren Rahmen. Die Kinder werden älter, kommen in die Pubertät – und plötzlich geht gar nichts mehr: Die Werte machen, was sie wollen, die Insulindosen stimmen mal und dann wieder nicht. Kein Tag läuft wie der andere … Daran kann doch nur das widerspenstige Verhalten der Jugendlichen schuld sein, oder? Weit gefehlt! In der Pubertät passiert sehr viel, das die Veränderungen erklärt.
Neulich rief eine verzweifelte Mutter einer 15-jährigen Tochter außerhalb der Diabetes-Sprechstunde an und klagte: „Chantal hat seit ihrem zweiten Lebensjahr Diabetes. Seitdem seit sie in der Pubertät ist, erreichen wir das Ziel einer Zeit im Zielbereich von 70 % im Glukosesensor nicht mehr, das HbA1c ist höher als vor der Pubertät, und sie vergisst immer wieder, Insulin zu geben! Anfangs war es viel einfacher, den Diabetes gut zu behandeln. Jetzt geht oft alles durcheinander, das macht mich und meinen Mann ratlos. Gleichzeitig hält sie sich nicht an Regeln und geht unerklärliche Risiken ein, z. B. mit Alkohol. Es hat deshalb schon viel Streit in der Familie gegeben. Sind das alles nur die Hormone? Was können Sie uns raten?“
So wie in dieser Familie geht es den meisten Eltern von Jugendlichen mit Diabetes. Während der Pubertät fällt es fast allen Jugendlichen schwer, ihren Diabetes gut zu behandeln. Das hat viele Gründe: Jugendliche streben weg vom Elternhaus, sie wollen selbstständig und eigenverantwortlich ihren Tag gestalten und sich, insbesondere nach den Erfahrungen der Beschränkungen durch die Corona-Pandemie, wieder mit Freunden treffen, Party machen und Sachen erleben.
Der Diabetes tritt in den Hintergrund, wird vernachlässigt und verdrängt. Zusammen mit ausgeprägten Stimmungsschwankungen der Jugendlichen kommt es dann oft zu heftigen Auseinandersetzungen in der Familie. Aber auch von Seiten der Eltern gibt es manchmal Probleme: Nach vielen Jahren intensiver Fürsorge fällt es ihnen schwer, loszulassen, gelassen zu bleiben und auch Verständnis für ihre Kinder zu zeigen.
Zu einem gewissen Teil ist genetisch bestimmt, in welchem Alter die sexuelle Reifung beginnt. Aber auch andere Faktoren spielen eine Rolle. Tatsächlich tritt die erste Regelblutung, die Menarche, in Europa seit dem 19. Jahrhundert immer früher auf – von damals nahezu 17 Jahren auf heute zwischen 12 und 13 Jahren. Die Zahlen der nationalen Geburtenkohorte Dänemarks von 2018 zeigen, dass das Eintrittsalter in die Pubertät bei beiden Geschlechtern noch weiter sinkt. Die Menarche erreichten die Mädchen mit durchschnittlich 13 Jahren, Veränderungen der Brust bereits mit 10,5 Jahren und die Pubertät abgeschlossen hatten die Mädchen mit 15,8 Jahren.
Nach den dänischen Daten begann die Pubertät bei den Jungen im Alter von durchschnittlich 11,1 Jahren mit dem Wachstum der Hoden. Den Stimmbruch hatten sie im Durchschnitt im Alter von 13,1 Jahren. Das Wachstum von Hoden und Penis war mit 15,6 Jahren abgeschlossen. Dass die Pubertät immer früher einsetzt, hat vor allem mit der Ernährung, der Hygiene, dem besseren Gesundheitsstatus überhaupt und besonders dem Körpergewicht zu tun. Mädchen mit höherem Body-Mass-Index (BMI) und mehr Körperfett bekommen ihre Regelblutung früher als dünnere Altersgenossinnen.
Die sexuelle Reifung beginnt, wenn bestimmte Nervenzellen im Gehirn aktiv werden. Wie der Startschuss fällt, ist aber noch unklar. Eigentlich ist die gesamte Zeit vor der Pubertät eine Phase der Hormon-Unterdrückung. Gehemmt wird dabei das Hormonsystem, das die Pubertät einleitet. Von Geburt an ist es vollständig ausgebildet und wartet auf seinen Einsatz.
Die Pubertät beginnt mit dem Aktivieren des Hormonsystems in einer Hirnregion namens Hypothalamus. Den Startschuss dafür geben Nervenzellen, die der Hirnanhangdrüse (Hypophyse) signalisieren, mit der Sekretion der Hormone FSH (follikelstimulierendes Hormon) und LH (luteinisierendes Hormon) zu beginnen. Über die Blutbahn gelangen diese Hormone in die Hoden oder Eierstöcke, woraufhin dort die Produktion der Sexualhormone Östrogen und Testosteron angekurbelt wird.
Diese Hormone haben neben ihren geschlechtstypischen Eigenschaften weitere Auswirkungen: Sie setzen die Insulinwirkung herab. Dies bedeutet, dass in der Pubertät verhältnismäßig mehr Insulin notwendig ist, um eine gute Stoffwechsellage zu erreichen. Hinzu kommt, dass die Hormone Östrogen und Testosteron in sehr schwankender Konzentration im Körper kreisen und ihre Wirkung somit nicht vorhersehbar ist. Dadurch kommt es zu stärker schwankenden Glukosewerten. Neben den Geschlechtshormonen wird in der Pubertät ein weiteres Hormon vermehrt ausgeschüttet: das Wachstumshormon. Es ist verantwortlich für den Wachstumsschub in dieser Lebensphase. Daneben reduziert es jedoch auch die Insulinwirkung.
Das Wachstumshormon wird regulär frühmorgens ausgeschüttet und führt somit zu einem Anstieg der Glukosewerte in den frühen Morgenstunden – dies nennt man auch „Dawn-Phänomen“ (Morgendämmerungs-Phänomen). Dieses Problem beklagen viele Jugendliche, wenn sie in der Pubertät sind. Erschwerend kommt hinzu, dass das Wachstumshormon nicht regelmäßig, sondern schwankend (pulsatil) ausgeschüttet wird. So sind die Glukosewerte ebenfalls schwankend und nicht regelmäßig jeden Morgen erhöht.
Die Phase des stärksten Wachstums und somit des stärksten Ausschüttens von Wachstumshormonen liegt bei Jungen etwa im Alter von 14 Jahren, während Mädchen im Jahr vor der ersten Regelblutung ihren Wachstumsspurt haben. In diesen Phasen sind auch die Insulindosen zur Nacht entsprechend anzupassen. Das Dosieren des Basalinsulins und das Programmieren der Basalrate in der Nacht werden somit zu einer Herausforderung. Erste Erfahrungen mit der automatischen Insulindosierung (AID, auch als Hybrid-Closed-Loop bezeichnet) bei Jugendlichen zeigen, dass die aus den Sensorwerten berechnete Insulinabgabe keine zwei Nächte hintereinander vergleichbar ist.
Bei Kindern mit einer intensivierten Insulintherapie (ICT) kann der Wechsel auf ein anderes Basalinsulin helfen, bei der Insulinpumpentherapie ohne Kopplung mit kontinuierlicher Glukosemessung (CGM) kann die Basalrate in den frühen Morgenstunden entsprechend erhöht werden.
Durch die genannten hormonellen Einflüsse steigt der Insulinbedarf in der Pubertät deutlich an: von vorher ca. 1 Einheit/kg Körpergewicht und Tag auf ca.1,2 bis 1,5 Einheiten/kg Körpergewicht und Tag. Es ist also für die Jugendlichen aufgrund der hormonellen Lage nicht einfach, in der Pubertät die Glukosewerte im Zielbereich zu halten. Nach Abschluss der Pubertät kann die Insulindosis meist wieder reduziert werden, da die Stoffwechsellage sich beruhigt.
Das risikoreiche und auch ansonsten manchmal verwirrt erscheinende Verhalten Jugendlicher hängt auch damit zusammen, dass in dieser Phase neue Verknüpfungen von Nervenzellen im Gehirn geschaffen werden. Man geht davon aus, dass ungefähr 60 % der Nervenverbindungen im Gehirn umgebaut werden. Dabei werden nicht alle neuen Strukturen gleichzeitig fertig. Vor allem führen Veränderungen im limbischen System, dem Belohnungszentrum, aufgrund einer früheren Entwicklung zu einem größeren Einfluss auf das Verhalten von Jugendlichen. Demgegenüber ist das Kontrollsystem des Gehirns, das im Stirnhirn (präfrontaler Kortex) liegt, erst viel später vollständig ausgereift.
Dieses Ungleichgewicht hat zur Folge, dass Jugendliche risikofreudiger sind und häufiger gefährliche Dinge tun. In der Pubertät suchen Jugendliche daher nach Erfahrungen, um das körpereigene „Belohnungssystem“ anzuregen, während die Kontrollfunktion des Gehirns bis in die späte Pubertät noch nicht voll entwickelt ist.
All dies sind einige wichtige Gründe für die Stoffwechselschwankungen in der Pubertät. Es kommt jetzt darauf an, den Jugendlichen die Freiheit und Verantwortung teilweise zu übertragen, ihnen aber auch nach wie vor bestimmte Regeln und Grenzen zu setzen, damit die Diabetes-Behandlung nicht komplett vernachlässigt wird. Die Förderung von Selbstständigkeit und Eigenverantwortlichkeit ist dabei ebenso wichtig, wie es Erfolgserlebnisse in der Therapie sind. Wenn dennoch eine festgelegte Regel gebrochen wird, sollte von Anfang an klar sein, welche Konsequenz darauf folgt. Diese sollte dann auch durchgesetzt werden, um die eigenen Regeln nicht zu unterlaufen.
Übertriebene Strafen und das Einengen der Jugendlichen hingegen sind eher kontraproduktiv. Auf jeden Fall sollten Eltern immer wieder den Kontakt und das Gespräch mit dem eigenen Kind suchen. Auch im Umgang mit dem Diabetes sollten sie immer mehr Freiraum geben und der oder dem Jugendlichen auch bei Therapieentscheidungen immer mehr zutrauen, um ihre oder seine Persönlichkeitsentwicklung zu unterstützen.
Eltern sollten wie im Fall von Chantal den Kontakt zum Behandlungsteam in der Diabetesambulanz intensivieren. Zunehmend muss in diesem Alter auch die Integration des Diabetes in den zukünftigen erwachsenenähnlichen Alltag eine Rolle spielen: Beruf und Diabetes, Führerschein und Diabetes sind Themen, die besprochen werden müssen. Das ist ein längerer Prozess und fordert von allen Beteiligten Vertrauen, Einfühlungsvermögen und Geduld. All diese Themen sind nicht nur durch die Eltern zu leisten, sondern sollten im Rahmen der Schulung der Jugendlichen durch das Diabetesteam unterstützt werden.
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Erschienen in: Diabetes-Journal, 2022; 71 (1) Seite 17-19
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