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Nicole Jäger ist Comedian, sprich Komikerin oder moderner Stand-up-Comedian, sowie Buchautorin („Nicht direkt perfekt“ etc.). Für Schlagzeilen sorgte sie auch, weil sie 180 Kilogramm abgenommen hat. Jäger beeindruckt durch ihren offenen und witzigen und nachdenklichen Umgang mit Aussehen, Gewicht, Vorurteilen. Ein Gespräch mit der Hamburgerin, das Spuren hinterlässt.
Diabetes-Journal (DJ): Können Sie beschreiben, wie Sie sich mit über 300 kg Körpergewicht fühlten?
Nicole Jäger: „Miserabel“ wäre noch geprahlt: Mi über 300 Kilogramm nimmt man am Leben nicht mehr teil. Ich war körperlich am Ende, gesundheitlich ging es mir schlecht. Und das Schlimmste ist die seelische Komponente: Man hat kein Sozialleben mehr, man kann nicht mehr rausgehen, die ständigen Schmerzen machen auch was mit einem. Die ewige Scham … und man glaubt, man ist der einzige, der so ist. Es war eine sehr, sehr dunkle Zeit.
DJ: Und wie fühlen Sie sich heute?
Jäger: Heute bin ich Stand-up-Comedian. Ich liebe es, zu touren, ich komme mit meinem Körper klar, ich bin schmerzfrei. Unverschämterweise bin ich gesund. Ich stehe als dicke Frau 2 Stunden auf der Bühne und rocke das. Damals konnte ich nicht zum Briefkasten, heute laufe ich kilometerweit.
DJ: Gab es einen bestimmten Tag, an dem Sie den Schalter umlegten?
Jäger: Es klingt ja manchmal so, dass ich eines Morgens aufwachte und mir sagte: Hm, Du könntest ja mal was mit Deinem Gewicht machen, bisher ist mir das nicht aufgefallen … Das ist natürlich Quatsch: Ich war mit 5 das erste Mal auf Kur. Ich habe eine 20 Jahre dauernde Odyssee an Kuren und Diäten hinter mir. Die mich am Ende immer noch übergewichtiger machte.
Aber tatsächlich: Ich wachte eines Morgens auf und dachte, ich hätte einen Herzinfarkt. Ich dachte, ich sterbe jetzt – und Todesangst ist ein extrem guter Motivator! Damit ging es los. Nun, es war kein Herzinfarkt, es war eine Panikattacke. Aber das wusste ich damals nicht.
DJ: Und was änderten Sie genau?
Jäger: Ich sagte mir, die ewige Konstellation aus Hungern und Essen, das kann es nicht sein. Wenn eine Diät funktionieren würde, dann gäbe es keine mehr. Übergewicht ist meiner Meinung nach keine Krankheit, sondern ein Symptom: Es steht für etwas. Essen ist mein Kompensationsverhalten. Andere rauchen, betrinken sich – bei mir war es das Essen. Ich sagte mir also: Du musst grundlegend an Deinem Verhalten etwas ändern, an Deiner inneren Einstellung zum Essen.
DJ: Welche Rolle spielt Essen heute in Ihrem Leben?
Jäger: Eine große, weil ich unglaublich gerne esse … und ich glaube auch gut koche (sagen meine Familie und Freunde). Es ist immer mein Thema. Aber: Es ist nicht mehr so belastend wie früher. Ich kenne mich aus. Ich esse nie, ohne nachzudenken. Ich bin die meiste Zeit des Jahres auf Tour – und da haben Sie 2 Möglichkeiten: Entweder Sie überlegen sich gut, wie Sie essen wollen. Oder Sie essen nur Mist. Wenn Sie nur Mist essen, können Sie abends keine Leistung bringen. Außerdem bin ich ja weiter am Abnehmen …
DJ: … mit welchem Ziel?
Jäger: Aaaaach ja … man möchte ja immer etwas an Zahlen festmachen. Also ich würde total gerne runter auf 125 kg. Das wäre mein Zwischenziel. Und wenn ich irgendwann mal zweistellig bin, also 99,9 kg – das ist utopisch –, wäre geil. Insgesamt ist es mir aber tatsächlich egal, was ich wiege. Wichtig ist, wie ich mich fühle. Und wenn ich in den Spiegel schaue, ob ich zufrieden bin. Die Antwort ist noch Nein – oder besser: Ja, denn ich habe hart geackert, um so wie heute auszusehen. Aber ich möchte noch weiterkommen auf dem Weg.
DJ: Sie hatten eine eigene Praxis als Coach – für wen?
Jäger: Ich hatte eine Praxis für Essgestörte wie Bulimiker, Magersüchtige, Übergewichtige – und ich hatte witzigerweise viel mit Diabetikern gearbeitet (wobei: Ich hasse das Wort „Diabetiker“ …). Also ich hatte als Ernährungs-Coach gearbeitet.
DJ: Wie erklären Sie sich, dass das Aussehen eines Menschen eine so starke Rolle in der Beurteilung des Menschen spielt?
Jäger: Zu Zeiten des Wirtschaftswachstums stand das Körpergewicht für Reichtum und Wohlstand. Dann kam aus den Staaten der Fitnesswahn rüber – und da stehen wir noch immer. Gewicht wird von uns mit etwas vollkommen anderem gleichgesetzt: mit einer bestimmten Klasse. Mit einem bestimmten gesellschaftlichen Rang. Die Persönlichkeit eines Menschen wird bei uns häufig am Umfang seiner Hüfte gemessen.
Und man sagt: Übergewichtige sind nachlässig, ihnen ist ihr Aussehen völlig egal … das ist einfach falsch: Bei übergewichtigen Menschen spielt das Gewicht die Hauptrolle! Denn die Gesellschaft ist damit beschäftigt, sie nicht vergessen zu lassen, dass sie nicht in ein bestimmtes Normbild passen. Wir klassifizieren Menschen nach ihrem Aussehen – wobei: Ich kenne unglaublich viele gutausehende dicke Menschen, genauso wie ich gutaussehende schlanke Menschen kenne.
Wir sagen aber: Schlank zu sein ist das Maß aller Dinge, um ein glücklicher Mensch zu sein. Und wenn Sie das nicht sind, dann spricht man Ihnen quasi das Recht auf ein gutes Leben ab. Dann müssen Sie etwas tun! Übergewichtige denken ständig, dass sie etwas tun müssen – ich sage: Ne, ne, ne! Ein’ Scheiß musst Du! Du musst erst etwas tun in dem Moment, in dem Du ein Problem damit hast. Vorher nicht.
Wir machen die Körperlichkeit eines anderen zu unserer Angelegenheit. Haben eine Meinung dazu und äußern die auch. Das ist herablassend, das ist bevormundend, da behandeln wir sie wie ein Kind.
DJ: Was wäre diesbezüglich Ihre Idealvorstellung?
Jäger: Leben und leben lassen – und dass das Aussehen keine Rolle mehr spielt für die Menschen! Aber das funktioniert nicht, weil wir auf Attraktivität gepolt sind. Schön wäre, wenn wir lernen würden, dass es nicht wichtig ist, wie derjenige aussieht, sondern was es für ein Mensch ist! Jeder sollte sich hier selbst hinterfragen; wenn man sich verliebt in einen Menschen, dann ist es relativ egal, wie der aussieht. Also da kriegen wir das hin.
In einer idealen Welt würden wir aufhören, die Menschen zu beurteilen nach persönlichem Attraktivitätsempfinden. Oft geht es doch nur um die Frage – und deswegen ist es ein schönes und ein fieses Thema zugleich: Würde ich eigentlich mit dem schlafen oder nicht? Bin ich selbst denn attraktiv genug? Das ist doch das, was oft dahintersteckt.
DJ: Was raten Sie Menschen, die diskriminiert werden?
Jäger: Man sollte sich fragen: Was halte ich von mir selbst? Warum stört es mich, wenn andere mit mir ein Problem haben? Und: Kann ich mich vielleicht mit mir selbst wohlfühlen? Als Frau muss man damit aufhören, sich nur über sein Aussehen zu definieren.
Das beginnt bei den Eltern von Mädchen: Erzieht Eure Mädchen nicht zu Prinzessinnen. Erzieht sie zu Menschen, die in der Lage sind, sich zu lieben. Sich auch dann zu lieben, wenn andere der Meinung sind, sie seien nicht liebenswert. Darauf zu warten, bis sich die Gesellschaft verändert, ist keine Option.
DJ: Was gefällt Ihnen an sich selbst?
Jäger: Ich bin ein sehr humorvoller Mensch, das mag ich. Und ich bin sehr für die Menschen in meinem Leben da. Ich bin ein Sprach-Nazi und ich stehe auf Eloquenz und versuche, das selber auch einigermaßen zu sein. Und ich habe eine gute Beobachtungsgabe. Wollen Sie auch was Körperliches hören …
DJ: … aber ja!
Jäger: Ich mag tatsächlich meine Figur – ich habe das Glück, eine Sanduhr-Figur zu haben, und darüber bin ich sehr froh (das würde schlank sicher auch gut … oder gar besser aussehen?!). Ich mag mein Gesicht, jey! Und ich habe schöne Füße!
DJ: Sie stört das Wort „Diabetiker“, warum?
Jäger: Das reduziert den Menschen, der Diabetes hat, auf seine Krankheit. Aber der Mensch ist ja keine Krankheit. Es ist nichts Falsches, dass er Diabetes hat – es geht nicht mal um Schuld! Du hast vielleicht selbst etwas dazu beigetragen, aber nein, Mann: Du bist nicht schuld! Ja und selbst wenn? Du hast Mitleid mit einem an Lungenkrebs Erkrankten – aber nur, wenn dieser nicht geraucht hat: Gut, das sagt etwas über Dich aus … aber nicht über denjenigen, der geraucht hat. „Diabetiker“, das reduziert das ganze Universum auf die Erkrankung.
Und es macht etwas mit den Menschen: „Ich bin Diabetiker …“ – das lässt bei den anderen Menschen sofort die Schotten runterfahren: Ach, der darf das nicht, jenes nicht, dem fällt bald der Fuß ab, der wird blind. Die andere Hälfte sagt: Ach, das ist doch nur Diabetes, das ist nicht schlimm. Ich sage: O. k., Du hast eine Erkrankung. Aber Du BIST nicht Diabetes. Die Frage ist nicht, wie Du mit Deiner Krankheit lebst, sondern: Wie lebt Dein Diabetes mit Dir.
DJ: Worum geht es in Ihrem neuen Bühnenprogramm ab Dezember?
Jäger: Mein Programm „Prinzessin Arschloch“ startet am 4. und 5. Dezember in Hamburg mit einem Preview, beides ausverkauft. Das reguläre Programm startet im Januar 2020. Es geht um das innere Arschloch: um Vorurteile und darum, was viele Menschen denken, aber nicht sagen … und warum das so ist.
Es geht um Körperlichkeit, um Weiblichkeit, um Beziehung, um Sex. Und darum, warum viele Frauen so ticken, wie sie ticken. Ich erkläre gerne, wie es ist, eine Frau zu sein – in meinem Fall 37, geschieden, Stand-up-Comedian. Und es wird emotional bei mir, immer.
DJ: Inwiefern hilft Ihnen Humor zur Bewältigung von Situationen?
Jäger: Ich stehe auf der Bühne und bin gezwungen, auf mein Leben mit einer gewissen Form von Humor zu schauen. Das hilft. Wenn man das macht, dann gibt es fast keine Situation, die nicht auch absurd komisch sein kann. In meinem neuen Programm berichte ich von der unterhaltsamsten Beerdigung meines Lebens …
DJ: Kann ich auch mit 70 oder 80 beginnen, an meiner Einstellung im obigen Sinn zu arbeiten?
Jäger: Der Tag, an dem es zu spät ist, ist der Tag, an dem Sie mit den Füßen zuerst aus der Wohnung getragen werden. Jeder Tag, den man mit Lebensqualität füllt, ist gewonnen. Es gibt kein Zuspät. Niemand weiß, wie alt er wird. Wenn Sie 70 sind und 100 werden, da haben Sie 30 Jahre, 30 geile Jahre! Und wenn nicht, wenn Sie nur noch 1 Jahr haben, dann muss es erst recht geil werden. Oder?
Interview: Günter Nuber und Nicole Finkenauer
Redaktion Diabetes-Journal, Kirchheim-Verlag,
Wilhelm-Theodor-Römheld-Straße 14, 55130 Mainz,
Tel.: (0 61 31) 9 60 70 0, Fax: (0 61 31) 9 60 70 90,
E-Mail: redaktion@diabetes-journal.de
Erschienen in: Diabetes-Journal, 2019; 68 (12) Seite 48-50
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