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„Die Höhen und Tiefen im Leben mit Typ-1-Diabetes – Erzähl’ deine Geschichte“: Unter diesem Motto hat Mirjam Eiswirth Gespräche zwischen 16 Typ-1-Diabetiker:innen in Schottland aufgenommen und sie gemeinsam mit einem Künstler porträtiert.
Im Diabetes-Journal und auf diabetes-online.de sind weitere Beiträge zu diesem Projekt erschienen:
Victor, Vater, Architekt, passionierter Radfahrer und Läufer, erhielt 1980 am Ende seines ersten Studienjahres die Diagnose Typ-1-Diabetes. Damals war die Welt noch eine andere – abgesehen davon, dass man sich ohne Bedenken zu Hause besuchen und in großen Gruppen treffen konnte, waren Insulinpumpen zum Beispiel noch Zukunftsmusik, und Blutzuckermessen geschah im Labor. Heute ist Victor mit Insulinpen und FreeStyle Libre unterwegs, denn ständig eine Insulinpumpe am Körper zu tragen, ist für ihn unpraktisch.
Über seine Diagnose erzählt er: „Alle klassischen Symptome waren da – der brennende Durst, die Müdigkeit, der Gewichtsverlust. Aber ich schob es auf die Umstellung und das anstrengende Jahr. Als meine Eltern mich in den Ferien sahen, nur noch ein Schatten meiner selbst, schickten sie mich gleich zum Arzt. Der fragte mich: ‚Liegt Diabetes bei Ihnen in der Familie?‘ – ‚Nein.‘ – ‚Nun, jetzt schon.‘ Ein riesiger Schock für einen Siebzehnjährigen.“
Victor kam zur Ersteinstellung ins nächste Krankenhaus und landete auf der geriatrischen Station in einem großen Saal. Er sieht noch vor sich, wie regelmäßig Betten verschwanden und mit neuen Patienten wieder auftauchten, weil der vorherige Patient verstorben war. An eine Schulung erinnert er sich nicht, nur an „diese schrecklichen Urintests, wo man eine Tablette mit dem Urin reagieren lassen musste und an der Farbe ungefähr ablesen konnte, woran man war. Im Alltag hat das nichts geholfen und war völlig unpraktisch.“
Es gab ein festes Spritzschema mit zwei Injektionen am Tag, keine einfache und schnelle Blutzuckermessung, kein Internet, um sich zu informieren, keinen Austausch. „Ich fühlte mich schrecklich alleingelassen und isoliert, mir war der Boden unter den Füßen weggezogen worden. Ich stellte alles in Frage – und beschloss schließlich, meinen Diabetes weitestgehend zu ignorieren, ich konnte es ja sowieso nicht ändern. Damit bin ich jahrelang eschreckend gut gefahren.“
Doch dann kam die unausweichliche Blutzuckerentgleisung – für Victor war es eine schwere Unterzuckerung, die im Krankenhaus endete. Mittlerweile gab es das Internet, neuere Insuline, tragbare Blutzuckermessgeräte und viel mehr Informationen online und in Büchern, die er verschlang. Seitdem beschäftigt er sich intensiv mit seinem Körper und seinem Blutzucker, lebt bewusster und gesünder.
Heute hat Victor zwei gesunde Kinder – doch die Befürchtung, ihnen Diabetes vererbt zu haben, lässt ihm keine Ruhe. Auch deswegen wünscht er sich nichts sehnlicher als, dass Diabetes irgendwann geheilt oder verhindert werden kann oder dass es zumindest bald Systeme gibt, die den Alltag einfacher machen.
Bis es so weit ist, hat er für sich einen anderen Weg gefunden, eher zufällig: „Ich war als passionierter Läufer und Radfahrer immer sehr fit. Aber als die Kinder klein waren, fehlte mir die Gelegenheit zum Sport. Mein Gewicht ging rauf und die Fitness runter. Das wollte ich ändern und beschäftigte mich mit Möglichkeiten, abzunehmen. Einfach Kalorien reduzieren und hungern wollte ich nicht, es musste doch einen anderen Weg geben. Und tatsächlich – es kommt darauf an, was man isst, nicht wie viel!
Kohlenhydrate treiben den Blutzucker hoch und verursachen Chaos, dann muss man wieder mehr essen, wenn der Körper gegenreguliert. Dieses Auf und Ab ist unglaublich ermüdend und ungesund. Die meisten Menschen mit Diabetes achten ohnehin schon darauf, vor allem solche Kohlenhydrate zu essen, die langsamer ins Blut gehen. Da fragte ich mich, warum ich überhaupt Kohlenhydrate zu mir nehme – welchen Vorteil haben die für mich? Nach langem Nachdenken kam ich zu dem Schluss: gar keine!
Und innerhalb kurzer Zeit strich ich alles an Brot, Nudeln, Kartoffeln oder Reis von meinem Speiseplan und begann, mich ketogen zu ernähren. Mein Gewicht ging runter, genauso wie mein Insulinbedarf und mein Blutzucker; das HbA1c fiel von 8 auf 5 %. Die anderen Blutwerte blieben perfekt, bis heute.“
Einige Jahre hat er online und in den lokalen Selbsthilfegruppen aktiv für diese Form der Ernährung geworben. Für Victor ist einer der großen Vorteile, wie entspannt er nun wieder Sport treiben kann: „Wenn ich vor einer langen Radtour die empfohlene große Portion Kohlenhydrate esse, steigt mein Zucker schnell an, ich muss mit Insulin gegenregulieren. Dann fällt der Zucker durch den Sport wieder schnell. Und ich muss im Auge behalten, wann ich das durch Essen auffangen muss.
Wenn ich hingegen eine fett- und eiweißreiche Mahlzeit esse, zum Beispiel Rührei, Speck und Champignons, dann geht die langsam und gleichmäßig ins Blut. Ich brauche nur ganz wenig Insulin und kann drei oder vier Stunden Radfahren, ohne dass mein Zucker sich viel verändert.“
Victor ist es wichtig, seinen Diabetes nicht zu verstecken – beim Essen mit Freunden erklärt er auf Nachfrage, warum er manches nicht isst, und ist bisher auf großes Interesse und viel Verständnis gestoßen. „Kürzlich war ich in einem sehr vollen Café und saß auch noch in einer Ecke, überall um mich herum Leute. Keine Chance, da wegzukommen, um zu spritzen, selbst wenn ich es wollte. Also habe ich die Insulinmenge am Pen eingestellt, meinen Hemdzipfel gelüftet und unter dem Tisch quasi blind gespritzt – die Bewegung kenne ich nach vier Jahrzehnten im Schlaf. Niemand hat was gemerkt, jedenfalls hat niemand reagiert.“
Und so hat er für sich herausgefunden, wie er mit Diabetes ganz normal leben kann. „Ich kann alles machen, was andere auch können – nur muss ich immer mein Messgerät, Insulin und Notfallzucker dabeihaben und mich ab und an darum kümmern, dass mein Zucker in der Spur bleibt.“ Und bis es eine Heilung gibt, sind Ernährung und Sport seine zwei größten Verbündeten.
von Mirjam Eiswirth
E-Mail: mirjam.eiswirth@gmail.com
Erschienen in: Diabetes-Journal, 2021; 70 (8) Seite 36-37
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